Gößling, Andreas
Enkel eines Schamanen! Sie können dich doch nicht einfach…!« Sie schaffte es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Ihn auch nur zu Ende zu denken – das schon gar nicht. Ängstlich spähte sie wieder zur Decke hinauf.
Das Brett da oben war zur Seite gerissen worden. Zwei finster blickende Wächter kauerten über der Öffnung, die braungelb bemalten Körper und Gesichter weit nach vorn gebeugt. In den Händen hielten sie lange rostrote Speere, mit denen sie immer wieder nach ihr und Pedro stocherten. Dazu machten sie Pfeif-und Schnalzgeräusche, als ob sie es mit Pferden oder Hunden zu tun hätten.
»Wir wollen den Canek sprechen, sofort!«, rief Carmen. Das Pfeifen und Schnalzen war fast noch schlimmer als die Speere. Außerdem dröhnten vom Cenote her immer noch die Trommeln, dass der ganze Berg zu vibrieren schien. »Sag ihnen das, bitte, Pedro! Wir haben eine wichtige Nachricht für ihn!« Pedro richtete sich langsam auf. Auch er presste sich so eng wie möglich mit dem Rücken an die Verlieswand. Aber das half überhaupt nichts – mit ihren Speeren konnten die Wächter jeden Fleck in diesem Felsloch erreichen. »Sag ihnen, dass wir gekommen sind, um die Forderung ihres Königs zu erfüllen. Wir wollen ihnen die heiligen Sachen zurückgeben, die ihnen gestohlen worden sind. Pedro!«
Aber offenbar hatte Pedro beschlossen lieber stumm zu bleiben.
Vielleicht war er auch einfach zu einer Statue versteinert, neben ihr an die klamme Wand geklebt.
Die Wächter hoben ihre Speere und ließen sie genau gleichzeitig auf ihre und Pedros rechte Schultern fallen. Carmen spürte die kalte, schartige Spitze auf ihrer Haut und einen hässlichen Druck von der Seite her gegen ihren Hals. Die Speere schoben Pedro und sie einfach die Wand entlang und auf das Loch in der Mauer zu. Dem Rascheln und Tuscheln, Scharren und Rumpeln nach musste dort drüben eine ganze Horde auf sie warten. Auch das Licht hinter dem Wandloch war viel stärker geworden. Offenbar hatten sie auf der anderen Seite viele Fackeln angezündet, deren Schein auch ihr Verlies bis in den letzten Winkel erhellte.
» Wa-tal!« Endlich fing Pedro doch noch an zu reden. Stockend sprach er in der alten Sprache auf die Wächter ein.
Da hatten die Speere sie schon die ganze Wand entlanggeschoben, bis direkt neben die Mauerluke. Pedro stammelte und gestikulierte. Plötzlich ließ der Druck der Speerspitze nach. Aber Carmen getraute sich nicht ihre Hand zu heben und sich über die schmerzen-de Stelle auf ihrer rechten Halsseite zu reiben. Wie erstarrt stand sie neben Pedro, der zittrig Luft holte und gleich wieder weiterredete. Es klang, als ob ein ganzes Nest voll zwitschernder Vögel in seinem Mund hauste und noch ein halbes Dutzend zischender, schnalzender Waldgeister dazu.
Carmen schielte zu den Wächtern hinauf. Die Speerspitze lag immer noch auf ihrer rechten Schulter. Aber mehr und mehr schien es, als ob die wild bemalten Männer von Pedros Rede beeindruckt wären. Sie wechselten Blicke, dann sah der ältere über die Schulter nach hinten. Gleich würde er weggehen, dachte Carmen, um irgendwelche Oberwächter oder Priester-Chefs zu fragen, was sie jetzt machen sollten. Damit hätten sie und Pedro zumindest etwas Zeit gewonnen. Dann konnte Pedro ihr wenigstens mal sagen, was er den beiden da überhaupt erzählt hatte – sie schienen ja wirklich ziemlich durcheinander zu sein.
Der ältere Wächter zog seinen Speer von Pedros Schulter zurück.
Da ertönte vom Loch in der Wand her ein furchtbarer Wutlaut. Carmen fuhr zusammen. Es klang so vollkommen wie Raubtierfauchen, dass sie sich gar nicht gewundert hätte, wenn ein Jaguar oder Panther mit einem Satz zu ihnen herübergesprungen wäre.
Aber stattdessen war nur kurz eine Fackel zu sehen, die in der Luke wild hin-und hergeschwenkt wurde. Drüben stieß irgendwer eine Folge von Lauten aus, die eindeutig nach wütendem Kommando klangen. Im nächsten Moment stöhnte Pedro auf. Der Speer an seinem Hals schubste ihn erbarmungslos weiter. Vor dem Mauerloch bekam er einen Schlag auf die Schulter und sank in die Knie. Zwei Hände wurden sichtbar, die Pedro beim Kragen packten und wie ein Lumpenbündel durch die Wandluke zerrten. Einen holprigen Herzschlag später lag Carmen an derselben Stelle auf den Knien.
Ihre Schulter tat eklig weh von dem Schlag. Aber viel schlimmer war die Angst, die im rasenden Takt der Trommeln in ihr dröhnte.
Da drüben sah es aus wie in einem Höllenofen. Flackernde schwefelgelbe
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