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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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Schwange sah, bei Leuten also, von denen er im Rückblick schreibt, daß die Literatur sie dazu verführt hätte, sich zu
untergraben
mit
übertriebenen
Forderungen an die gesellschaftliche Wirklichkeit, mit
unbefriedigten Leidenschaften
, denen sie hypochondrisch immer neuen Ausdruck gaben und schließlich sogar mit
eingebildeten Leiden
. In einer Anwandlung von Mißtrauen gegen Literatur schrieb er auch einmal in einem Brief an Jacobi, es sei ihm
von jeher eine
unangenehme Empfindung gewesen
,
wenn Dinge, die ein einzelnes Gemüt, unter besondern Umständen beschäftigten, dem Publiko hingegeben werden sollen
.
    In einem Augenblick, da Goethe für sich selbst die Literatur
subordiniert
hat, steht am 4. April 1776 Jakob Michael Reinhold Lenz vor der Tür, wie ein Abgesandter des eigenen jugendlichen Drängens. Lenz, den er einst seinen
Jungen
nannte,
den ich liebe wie meine Seele
, erscheint ihm jetzt wie ein Bote aus der Welt des menschlich ungefestigten und untüchtigen Literatentums. Lenz kommt auch wirklich als ein Gescheiterter, der in Weimar bei Hofe und bei seinem Freund und
Bruder
– so nannten sich die beiden und so nennen sie sich bisweilen noch – Zuflucht und Halt sucht.
    Lenz war im Jahr 1774 zu einigem literarischen Ruhm gekommen mit der Komödie »Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung«, und mit den »Anmerkungen übers Theater«, dem anspruchsvollen und selbstbewußt vorgetragenen Versuch einer neuen Dramaturgie nach dem Vorbild Shakespeares. Den »Hofmeister« wie auch die zuerst anonym erschienenen »Anmerkungen« hatte man zunächst Goethe zugeschrieben. Das hätte für Lenz eine günstige Wirkung haben können, denn es war ja ein Ausdruck großer Wertschätzung. Aber der in seinem Auftreten zwischen Schüchternheit und anfallsweiser Keckheit schwankende junge Mann schien das Pech geradezu anzuziehen, denn nachdem er sich als Autor dieser eben noch gerühmten Werke offenbart hatte, nannte man ihn einen Nachahmer Goethes.
    Im »Hofmeister« hatte Lenz die Demütigungen dargestellt, die er selbst als Hauslehrer bei adligen Herrschaften erlitten hatte. Das war nun wirklich kein Thema, das man von Goethe hätte erwarten können, um so erstaunlicher, daß man das Stück ihm zuschrieb, vielleicht nur deshalb, weil hier wie auch im »Götz« in virtuoser Manier die Personen durch die Art ihres Sprechens charakterisiert werden. Lenz war zweifellos ein hochbegabter Autor, was Goethe sofort anerkannte; gleich ihm schrieb er mit leichter Hand, einfallsreich, witzig und konnte aus dem Stegreif dichten, Satirisches, Poetisches, Wortspielereien. Doch das stärkte sein Selbstbewußtsein nicht, es war für ihn nichts anderes als eine Äußerung der Natur, auf die man nicht stolz zu sein brauchte. Sein Lebensproblem war, daß ihn Schuldgefühle belasteten, weil er sich von einem autoritären Vater, einem hohen Kirchenmann in Livland, dem heutigen Lettland, losgerissen und die Theologenlaufbahn aufgegeben hatte, um sich ganz der unsicheren Literatenexistenz zu verschreiben. Das konnte damals nicht gut gehen. Der Vater weigerte sich, ihn zu unterstützen, und Lenz verdingte sich zu ungünstigen Bedingungen als Gesellschafter bei den jungen Baronen von Kleist, die er nach Straßburg begleitete, wo sie einem französischen Regiment beitraten. Lenz hauste bei ihnen wie ein besserer Stallbursche. Ein demütigendes Leben, das er dann in dem Stück »Die Soldaten« verarbeitete.
    Lenz war kleinwüchsig und zierlich, wirkte fast wie ein Kind. Goethe nannte ihn
das kleine wunderliche Ding.
Doch er war nicht nur klein, er machte sich auch klein bis zur Selbsterniedrigung. An Goethe schrieb er: »Haben genug 〈...〉 von meinen Schmieralien gesprochen – nun laß mich wieder ausgehen von dem kleinen Dreckhaufen Ich und Dich – finden.« In der satirischen Skizze über die Literaturszene, »Pandämonium Germanicum« betitelt, läßt er Goethe auftreten, der, alle hinter und unter sich lassend, einen steilen Berg besteigt, energisch, schwungvoll und unbekümmert, Lenz folgt ihm nach, aber mühsam »kriechend«. Als man oben ist, rücken die Kritiker an, die von unten herauf rufen. Den Lenz beschimpfen sie als »Nachahmer«, der eigentlich dort oben nichts zu suchen habe. Lenz schickte das Manuskript an Goethe, dem war es peinlich. Er riet von einer Veröffentlichung ab. Lenz nahm es als Befehl, wie er auch bei manchen anderen Manuskripte, die er Goethe hatte zukommen lassen, auf eine Veröffentlichung

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