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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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Frühjahr 1776 fragte ihn ein alter Bekannter, der Theaterautor Christian Felix Weiße, wann man denn endlich mit einem neuen Werk aus seiner Feder rechnen könne. Goethe beschied ihm knapp und deutlich: er werde
seine literarische Laufbahn Lenzen überlassen: dieser wird uns mit einer Menge Trauerspiele beschenken.
Als Goethe im März 1776 diese Äußerung tat, ahnte er nicht, daß Jakob Michael Reinhold Lenz, den er als seinen literarischen Nachfolger bezeichnete, bereits auf dem Weg zu ihm nach Weimar war und er ihn dort bei der Rückkehr vorfinden würde. Zwar begrüßte er ihn im ersten Augenblick herzlich, doch auf die Dauer war ihm der Besuch nicht angenehm. Lenz erinnerte ihn an das Problematische einer Literatenexistenz, der er ja entrinnen wollte, als er nach Weimar ging.
    Goethe hatte einen Schritt getan, dessen Bedeutung ihm selbst erst allmählich in ihrer vollen Tragweite bewußt wurde:
Meine Schriftstellerei subordiniert sich dem Leben
, so wird er es später formulieren.
    Das Leben der ersten Monate in Weimar war zunächst verspielt, exzentrisch, phantasiegeleitet – insofern hatte es immer noch etwas Literatenhaftes an sich und war noch wenig berührt von ernsthaften Pflichten und Geschäften. Aber genau deswegen wurde es ihm zum Problem, denn er war eigentlich nach Weimar gekommen, um von der Wirklichkeit anders in Anspruch genommen zu werden. Er hatte nicht ein neues Terrain für das impulsive Sich-Ausleben gesucht, sondern es verlangte ihn nach einem Halt; im Rückblick kommen ihm die Exzesse der Einbildungskraft, das Nachgeben jeder Stimmung, die Ungebundenheit wie etwas Leeres, Haltloses vor. Die letzten Monate in Frankfurt bezeichnet er als das
untätige Leben zu Hause wo ich mit der größten Lust nichts tun kann
. Selbstverständlich hat er sehr vieles getan, nämlich vieles zu Papier gebracht, aber gerade das erscheint ihm jetzt als nichtig, es fehlen die Schwergewichte des Handelns. Seine Lebensform kommt ihm im Rückblick vor wie ein Rad, das sich immer schneller dreht, weil es die Bodenberührung verloren hat. Was ihn auszeichnet und worauf er auch stolz ist – der Einfallsreichtum, die bewegliche Einfühlungskraft, die stets reizbare Empfindlichkeit, die Stimmungsschwankungen –, dieses ganze Feuerwerk der Seele, zeigt seine problematischen Aspekte. Er leidet nämlich an den zwei Geschwindigkeiten, sein inneres Leben ist zu schnell für die äußere Wirklichkeit.
    Goethe wirkte zwar stolz und selbstsicher nach außen und rückte, ob bei Hofe oder in bürgerlichen Kreisen, sofort in den Mittelpunkt des Interesses, doch er fühlte sich innerlich unsicher; es blieb ihm nicht verborgen, daß ihm noch vieles fehlte, um im wirklichen Leben eine tüchtige Rolle spielen zu können. Der genialische Überflieger fand Gefallen am Soliden und Gründlichen; und er spürte, woran ihm mangelte. Daran wollte er arbeiten, der freie Flug der Phantasie indes würde von selbst kommen, um den brauchte man sich nicht zu sorgen, aber um die Gestaltung des wirklichen Lebens sehr wohl. Die Kunstwerke gelingen leichter als das Kunstwerk des Lebens. Hier fühlte er sich als Lernender und er wußte: Genie schützt nicht vor Lebensdilettantismus. Besonders suspekt war ihm die angemaßte moralische Überlegenheit des Literatentums. Klopstocks Auftreten war ihm ein abschreckendes Beispiel. Dieser hatte sich ohne Einsicht in die wirklichen Verhältnisse zum moralischen Richter über den jungen Herzog und Goethe aufgeworfen. Der Dichter des »Messias« mochte über die göttlichen Verhältnisse Bescheid wissen, aber er verstand nichts von dem, was in Weimar vorging. Um große Themen zu traktieren, braucht man noch nicht ein großer Mensch sein. Das Literatentum aber macht die Literatur zum Maßstab für den Menschen, während man, davon ist Goethe inzwischen überzeugt, umgekehrt die Literatur am Menschen messen soll, denn die Wahrheit ergibt sich aus dem praktischen Leben, nicht aus der Literatur. Deshalb verbietet sich jede Arroganz der Literaten gegen die lebensklugen Menschen. Lebensklug ist es, aus dem Leben poetische Funken zu schlagen, nicht aber die Poesie mit dem Leben zu verwechseln. Das Leben hat seinen Eigensinn, genauso wie die Poesie, und Goethe will in beiden Sphären kundig sein.
    Als Goethe sich entschloß, die Literatur dem Leben zu
subordinieren
, war das auch ein Einspruch gegen die Überschätzung der Literatur, die er bei seinen Freunden und Bekannten des ›Sturm und Drang‹ immer noch im

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