Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
inspirierter Weisheit. Auch Goethe redet von
Gott
, wenn er seiner Freude über die baldige Begegnung mit Lavater Ausdruck gibt.
Mein Gott dem ich immer treu geblieben bin hat mich reichlich gesegnet im Geheimen, denn mein Schicksal ist den Menschen ganz verborgen, sie können nichts davon sehen noch hören. Was sich davon offenbaren läßt, freu ich mich in dein Herz zu legen.
Was Goethe hier Gott nennt, meint eine Schicksalsmacht, bei der er fühlt, daß sie ihn gnädig lenkt. Goethe redet von Gott so, wie einst Sokrates von seinem Daimonion gesprochen hat. Diese Schicksalsmacht ist etwas, das jeder für sich erfahren kann, sie bleibt dem anderen verborgen, wenn auch die Wirkung der lebensgestaltenden Macht solcher inneren Gewißheit von anderen durchaus bemerkt werden kann. Diesen Gott oder diese persönliche Schicksalsmacht kann man keinem anderen predigend, mahnend, werbend ans Herz legen oder gar aufnötigen. Jeder muß seinen eigenen Gott spüren und finden, was nichts anderes bedeutet, als den roten Faden des eigenen Lebens zu ergreifen. Man kann sich für die Gewißheit, von einem eigenen Daimonion geführt zu werden, auch nicht auf irgendwelche vorgeblich heiligen Texte berufen. Allerdings lassen sich aus solchen Erfahrungen innerlicher Lenkung Inspirationen gewinnen, die in eigene Texte einfließen können. Der Bibelgläubige glaubt an eine Heilsgeschichte im Ganzen, Goethe aber glaubt nur an seine persönliche Heilsgeschichte, die ihm unter der Voraussetzung möglich erscheint, daß er, wie er an Lavater schreibt, sich selbst und damit seinem persönlichen Gott treu bleibt. Dieser Brief an Lavater enthält im übrigen eine versteckte Warnung. Lavater soll bloß nicht hoffen, man werde auf der Ebene des Glaubens übereinstimmen. Es ist etwas anderes, was Goethe an Lavater bewundert: dessen Lebensstil. Goethe nennt es den
reinsten Zusammengenuß des Lebens
. Gemeint ist damit die herzliche Offenheit, wodurch künstliche Schranken und Abstände überwunden werden. Gerade weil man anderswo verankert ist, kann man hier frei aufspielen. So wird eine unbekümmerte Spontaneität möglich, mit der man sich von den engen, berechnenden Verhaltensweisen löst. Diese höhere Unbekümmertheit ließ Lavater in der Wahrnehmung Goethes zu einem letztlich naiven Menschen werden, ungebrochen, mit sich selbst übereinstimmend und deshalb innerlich frei. Eine höhere, keine beschränkte Naivität. Diese Unbekümmertheit des Frommen auch und gerade in irdischen Angelegenheiten wirkt auf Goethe anziehend. Überhaupt verspricht er sich vom Umgang mit Lavater eine große Lösung und Lockerung seines eigenen Wesens, das er am Weimarer Hof der Gefahr des
Eintrocknens und Einfrierens
ausgesetzt sieht. An Lavaters Glauben schätzt er nicht die einzelnen Glaubenssätze, sondern die Wirkung des Glaubens auf die praktische Lebensgestaltung.
An der Glaubenswelt selbst aber ist für Goethe nur das genießbar, was poetische Farbe, Phantasie und Innigkeit hat. Lavaters Buch »Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn. Nach der Offenbarung Johannes«, schreibt Goethe dem Autor, habe ihm dort
Vergnügen
bereitet, wo die
Verheißung des ewigen Lebens
schön ausgemalt wird, etwa das
Weiden der Schafe unter Palmen
oder das
siegende Gefühl der Engel
. In solchen
Gestalten und Gleichnissen
, schreibt er,
hast du dich auch gut gehalten
, und fährt dann fort:
nur schwinden deine Ungeheuer für mich zu schnell in allegorischen Dampf auf
. Kurz: Goethe sieht die Sache ästhetisch, nicht theologisch. Und darum hält er auch nichts von der Offenbarung des Unheils, wenn sie poetisch mißlungen ist.
Goethe charakterisiert den Offenbarungskommentar des Freundes auf eine Weise, die für den Poeten zwar schmeichelhaft, für den Gläubigen aber eigentlich blasphemisch ist. Lavaters Kommentar, schreibt Goethe sinngemäß, ist ebenso offenbarend oder nicht offenbarend wie der kommentierte Orginaltext. Beides sind letztlich nur poetische Texte, Ausdrucksformen einer erregten Seele:
nach meiner Empfindung macht deine Ausmalung keinen andern Eindruck als die Original Skizze
. Poetisch ist es ein Gewinn, wenn man eine Seele in einem Text widergespiegelt findet, der Glaube aber ist darauf angewiesen, in solchen Texten mehr zu sehen, als eine Seele in ihn hineingelegt hat. Der Gläubige sieht darin eine höhere Macht, und nicht nur die Seele von Seinesgleichen.
Goethe hatte noch vor dem Zusammensein im Herbst 1779 die Grenzen der Übereinstimmung deutlich
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