Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
doppelt bin?
Eine Anspielung auf den platonischen Liebesmythos von den zwei Hälften, die ursprünglich zusammengehören und sich deshalb suchen. Doch nicht nur von dieser Einheit, welche durch zwei Personen gebildet wird, ist die Rede, sondern auch von der in sich gedoppelten Einheit: Das, was in mir dichtet, ist etwas anderes als das, was in den äußeren Realitätsbezügen lebt. So deutet die rhetorische Frage
Fühlst du nicht an meinen Liedern / Daß ich Eins und doppelt bin?
darauf hin, daß diese Liebe zwischen Literatur und Leben changiert, in der Schwebe bleibt während einiger dichter Wochen im Spätsommer und Herbst 1815.
Marianne hatte sich tausend Dinge einfallen lassen für Goethes Geburtstag, der auf der Gerbermühle gefeiert wurde. Boisserée notierte es im Tagebuch. Frühmorgens spielten Musikanten in einem Boot auf dem Main. So wurde der Dichter geweckt. Das Gartenhaus war von Marianne geschmückt worden, im Divan-Geschmack, mit Orangen, Datteln, Feigen und Trauben. Zwischen den Fenstern zusammengebundene Schilfzweige sollten Palmbäume vorstellen, darunter Blumenkränze in der Anordnung des Farbkreises. Die Damen mit Turbanen aus feinstem indischen Musselin. Man speiste an einer langen Tafel. Willemer kredenzt einen 1749er Rheinwein. Marianne sang mit Gitarre Goethe-Lieder zu eigenen Kompositionen. Reden, feierliche und launige. Auch Goethe bekam von Marianne einen Turban aufgesetzt, passend zum Vers:
Komm Liebchen, komm! Umwinde mir die Mütze / Aus deiner Hand nur ist der Tulbend schön.
Bis zum Abend saß man beisammen, am Ende und zum Höhepunkt liest Goethe seine »orientalischen Gedichte«.
Goethe und Marianne tauschen Zettelchen und Briefe mit Zahlenfolgen, die auf Seiten und Zeilennummern der Hammerschen Hafis-Ausgabe hinweisen. Daraus ergeben sich Zitatcollagen als intime Mitteilung. Einer von Goethes Chiffrenbriefen lautet entschlüsselt:
Mein wundes Herz hat Recht auf Salz / Von deinen Lippen, / Bewahr das Recht, ich gehe fort, / Sei Gott befohlen. / Du bist ein reines Wesen mir / Aus höhern Welten ...
Marianne in einem chiffrierten Brief: »Dir mein Herz zu eröffnen verlangt mich, / Und von deinem zu hören verlangt mich / 〈...〉 / All mein Leben will ich nur zum Geschäft / Von seiner Liebe machen.«
Ein Divan-Gedicht bezieht sich ausdrücklich auf dieses Spiel mit verschlüsselten Mitteilungen:
Mir von der Herrin süße / Die Chiffer ist zur Hand, / Woran ich schon genieße, / Weil sie die Kunst erfand. / Es ist die Liebesfülle / Im lieblichsten Revier, / Der holde, treue Wille / Wie zwischen mir und ihr.
Willemer, der sonst seine schöne, wesentlich jüngere Frau eifersüchtig hütete, war so stolz auf Goethes Umgang, daß er ihm gegenüber Eifersucht, falls er sie empfunden haben sollte, jedenfalls nicht zeigte. Als Goethe sich einige Zeit zurückhielt und zahlreiche Briefe unbeantwortet ließ und Marianne darüber krank wurde, bat er geradezu flehentlich um einen Besuch. Er habe, schreibt er, eine Wohnung im Stadthaus freigehalten, »wenn Goethe kommt! damit die ewigen Gefühle nicht zu verstummen brauchen, und die Liebe alles zu geben habe, was sie vermag«.
Nach den Wochen in Frankfurt und auf der Gerbermühle reiste Goethe erneut nach Heidelberg, um dort noch einige Wochen bei Boisserée und seiner Gemäldesammlung zu verbringen. Noch einmal besuchte ihn dort Marianne in Begleitung ihres Mannes, am 23. bis 26. September, es war das letzte Mal. Bei dieser Gelegenheit übergab sie ihm ihre beiden schönsten Gedichte, über die Winde von Ost und von West. Das Ostwind-Gedicht hatte sie bei der Hinfahrt geschrieben. Die erste Strophe:
Was bedeutet die Bewegung? / Bringt der Ost mir frohe Kunde? / Seiner Schwingen frische Regung / Kühlt des Herzens tiefe Wunde.
Und die letzte Strophe:
Ach! die wahre Herzenskunde, / Liebeshauch, erfrischtes Leben / Wird mir nur aus seinem Munde, / Kann mir nur sein Atem geben.
Ihr Abschiedsgeschenk am 26. September war das Westwind-Gedicht:
Ach! um deine feuchten Schwingen, / West, wie sehr ich dich beneide: / Denn du kannst ihm Kunde bringen / Was ich in der Trennung leide.
Die letzte Strophe:
Sag ihm, aber sag’s bescheiden: / Seine Liebe sei mein Leben, / Freudiges Gefühl von beiden / Wird mir seine Nähe geben.
Am 7. Oktober 1815 reiste Goethe zurück nach Weimar. Sulpiz Boisserée, der die letzten Wochen fast immer um ihn gewesen war, begleitete ihn ein Stück weit. Boisserée notiert im Tagebuch: »Er ist sehr angegriffen, hat
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