Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
den inspirierten Individualismus auch in Glaubensdingen, und mit Sympathie begegnete er Menschen,
welche auf ihre eigne Hand ihr Heil suchten
.
Im Sommer 1770 tauchte einer dieser Frommen auch im Straßburger Kreis auf. Es war der neun Jahre ältere Johann Heinrich Jung, ein ehemaliger Schneider und Schullehrer, der nach Straßburg gekommen war, um Medizin zu studieren mit dem Ziel, sich in der zuvor schon ausgeübten ärztlichen Kunst des ›Starstechens‹ am Auge zu vervollkommnen. Goethe fühlte sich sofort von diesem sanften und zugleich energischen Mann angezogen, ließ sich seine Lebensgeschichte erzählen und war davon so gefesselt, daß er ihn ermunterte, sie aufzuschreiben. Die Autobiographie erschien in mehreren Bänden zwischen 1777 und 1817, wobei der Autor seinem Namen den Zusatz ›Stilling‹ gab, womit er andeuten wollte, daß auch er sich zu den sogenannten Stillen im Lande rechnete, obwohl er Abstand hielt zu pietistischen und herrnhuterischen Kreisen. Jung-Stilling hatte sich aus kleinsten Verhältnissen – der Vater war Kohlenbrenner, Dorfschullehrer und Schneider im Westfälischen – autodidaktisch emporgearbeitet, ohne Geld und mit wechselnden Gönnern, doch innerlich gehalten durch ein fast kindliches Gottvertrauen. Das erinnerte den jungen Goethe an seine Mentorin Susanna von Klettenberg, nur war das vermögende adlige Fräulein nicht so sehr auf Gottes Hilfe angewiesen wie der arme Jung-Stilling. Ihm half das Gottvertrauen auf bisweilen so wunderbare Weise, daß Goethe immer noch davon beeindruckt war, als er Jahrzehnte später über ihn schrieb:
Das Element seiner Energie war ein unverwüstlicher Glaube an Gott und an eine unmittelbar von daher fließende Hülfe, die sich in einer ununterbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Not, von jedem Übel augenscheinlich bestätige.
Für Goethe war Jung-Stilling ein Beispiel dafür, daß Gottvertrauen die eigenen Kräfte mobilisieren kann und insofern eine höhere Art des Selbstvertrauens darstellt, weil es sich dabei eben nicht nur um das empirische Selbst sondern um ein höheres, gesteigertes Selbst handelt, das sich in Gott aufgehoben fühlt. Jung-Stilling war durchaus zupackend und aktiv, doch glich er dabei einem
Nachtwandler
, wie Goethe schreibt,
den man nicht anrufen darf
, weil er sonst von der Glaubenshöhe, die seinem Leben Sicherheit gab, abstürzen konnte.
Jung-Stilling schildert, wie der junge Goethe, obwohl er zu den ›Wilden‹ gehörte und unbekümmert sein »freies Wesen« auslebte, doch darauf achtete, daß bei der Tafelrunde nicht über ihn, den Frommen, gespottet wurde. Allerdings hielt sich Jung-Stilling auch zurück, vermied es lästig zu werden, und so ließ man ihn in Ruhe, »außer daß Goethe zuweilen seine Augen herüberwälzte«. Der hatte unbestritten die »Regierung am Tisch, ohne daß er sie suchte«.
Was aber faszinierte Goethe an Jung-Stilling? Dessen Vertrauen darauf, daß alles Gute und Schlechte auf seinem Lebensweg ihm von Gott zugeteilt sei – diese
göttliche Pädagogik
erschien ihm, Goethe,
anmaßlich
. An einen solchen persönlich anleitenden und beaufsichtigenden Gott konnte der junge Goethe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr glauben, es war ihm diese Gesinnung
weder erfreulich noch förderlich,
schreibt er. Es mußte etwas anderes sein, das ihn anzog. Er fand in ihm eine aufs Gebiet der Religion versetzte geistige Erfahrung, die er das
Aperçu
nennt. Ein gewichtiger Begriff in Goethes Spätphilosophie. In »Dichtung und Wahrheit« definiert er ihn im Zusammenhang mit der Charakteristik Jung-Stillings so: es sei
das Gewahrwerden einer großen Maxime, welches immer eine genialische Geistesoperation ist.
Und weiter:
Ein solches aperçu gibt dem Entdecker die größte Freude weil es auf originelle Weise nach dem Unendlichen hindeutet, es bedarf keiner Zeitfolge zur Überzeugung, es entspringt ganz und vollendet im Augenblick
.
Wenn ein Geistesblitz, ein Einfall, eine plötzliche Intuition einen bisher rätselhaften und dunklen Zusammenhang mit einem Mal erkennbar werden läßt – eine Evidenz im Augenblick –, dann nennt Goethe das ein Aperçu, zunächst und hauptsächlich bei der Naturerkenntnis.
Alles kommt in der Wissenschaft auf das an, was man ein Aperçu nennt, auf ein Gewahrwerden dessen, was eigentlich den Erscheinungen zum Grunde liegt,
heißt es in der »Geschichte der Farbenlehre«. Der Begriff kommt aus dem Französischen, wo er für eine rasche Erst-Wahrnehmung
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