Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
steht.
Drei Aspekte am Aperçu als außerordentlichem Erkenntnisereignis treten hervor:
Das eigentliche Objekt ist nicht ein zufälliges oder belangloses Phänomen, sondern eines, das den Durchblick auf den Zusammenhang des Ganzen, auf das
Unendliche
gewährt. Das Objekt ist zwar ein einzelnes und gegenständliches, doch zugleich symbolisch durchscheinend für die
ewige Harmonie des Daseins
. In diesem Sinne wird Goethe etwa die Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen, die er im übrigen auch als eine jähe Einsicht beschreibt, als Einblick in den Gesamtzusammenhang der Natur deuten, da dieser Knochen, den man bei Tieren, aber noch nicht beim Menschen entdeckt hatte, ihm als Beweis dafür gilt, daß es einen gleitenden Übergang zwischen Mensch und Tier gibt, daß also die Natur eben doch keine Sprünge macht. So wird der Zwischenkieferknochen zum Gegenstand eines Aperçus. Nach der Seite des Objektes verweist das Aperçu also auf eine Totalität, die sich plötzlich in etwas Einzelnem enthüllt.
Nach der Seite des Subjektes bedeutet das Aperçu, daß der Erkennende sich verwandelt fühlt, wie aus der Vereinzelung gelöst und erhoben zur Teilhabe am Sinn des Ganzen. Eine Art der Erkenntnis, die ihn seine
Gottähnlichkeit vorahnen
läßt. Er ist von einer
Offenbarung
angesprochen, es ist aber nicht die Offenbarung eines überweltlichen Gottes, wie in der christlichen Religion, sondern eine Offenbarung, die sich der inspirierten Naturerkenntnis verdankt. Doch wirkt sie ähnlich umstimmend und verwandelnd wie der Gottesbezug.
Der dritte Aspekt betrifft die Plötzlichkeit, Augenblicklichkeit des ganzen Vorgangs. Auf einmal sieht man die Dinge neu, sieht mit anderen Augen in die Welt. Damit verbunden ist ein Einschnitt im Leben. Von nun an ist alles anders. Das Leben wird durchschnitten, es gibt im pathetischen Sinne ein Vorher und Nachher. Das Aperçu mag üblicherweise nur die sprachlich prägnante Wendung bezeichnen, bei Goethe aber ist die existentielle Wende in der Folge einer Inspiration mit gemeint.
Das Aperçu mit diesen drei Aspekten – Erfahrung der Totalität, Verwandlung des Subjektes, Plötzlichkeit – nennt Goethe eine
genialische Geistesoperation
.
Wenn der junge Goethe den kindlichen Gottesbezug Jung-Stillings, seine
göttliche Pädagogik
, zurückweist und sich doch von ihm faszinieren läßt, so liegt das daran, daß er bei dem frommen Mann diese
genialische Geistesoperation
spürt: Jung-Stilling hat etwas Ganzes, nämlich den Gott der Bibel, erfahren, sein innerer Mensch ist vollkommen umgewandelt worden, und das alles ist plötzlich geschehen. Alles ist wie beim Aperçu.
Der junge Goethe, der selbst etwas Genialisches in sich spürt und wenig später seine Epoche des Geniekultes durchlebt, sieht in Jung-Stilling eine Art Genie der Religion. Auch Jung-Stilling lebt aus einem Aperçu, das allerdings vom Geistigen ins Geistliche transponiert ist. Was man in den frommen Kreisen Erweckung, Bekehrung oder Wiedergeburt nennt, interessiert den jungen Goethe nicht deshalb, weil er selbst noch fromm wäre, sondern weil es ihm hilft, die Psychologie des Genies zu verstehen, also das zu begreifen, wovon er selbst umgetrieben ist – diese plötzliche Eingebung, die das Leben in neuem Licht erscheinen läßt und den inneren Menschen verwandelt.
Als ein solcher Mensch, der sein verwandelndes Aperçu erlebt hat, ging Jung-Stilling unter den Freunden und Bekannten in Straßburg umher, offen und gesprächig, wo ihm Sympathie und Verständnis entgegengebracht wurde, in sich zurückgezogen, wo man ihn nicht anerkannte. Goethe sprang ihm bei, wenn andere ihn neckten. Er besuchte ihn, schreibt Jung-Stilling, »gewann ihn lieb, machte Brüderschaft und Freundschaft mit ihm, und bemühte sich bei allen Gelegenheiten, Stillingen Liebe zu erzeigen«. An jene gewandt, die Goethe eine solche Freundlichkeit nicht zutrauen, fügt Jung-Stilling hinzu: »Schade, daß so wenige diesen vortrefflichen Menschen seinem Herzen nach kennen!«
Als Jung-Stilling im Sommer 1770 überstürzt Straßburg verließ, um seine sterbenskranke Braut im Westfälischen zu besuchen, lieh ihm Goethe Geld und war auch sonst in praktischen Dingen behilflich. Nach der Rückkehr war sein erster Gang wieder zu Goethe, der ihn herzlich begrüßte und erneut in seinen Freundeskreis zog, zu dem seit Sommer 1771 neben Lersé und Salzmann auch Jakob Michael Reinhold Lenz gehörte. »Stillings Enthusiasmus für die Religion hinderte ihn
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