Goethe war’s nicht
Wenn ja, wäre dies ein weiteres Indiz für die Gauner. Herr Schweitzer nahm sich fest vor, die Übergabe nicht zu vermasseln. Geld gegen Geisel, auf nichts anderes wollte er sich einlassen. Kuno Fornet war für ihn ein mahnendes Beispiel für ein veritables Fiasko. Nicht mit ihm, nicht mit Herrn Schweitzer, das erwartete er einfach von sich. Doch bei genauerem Nachdenken musste er sich eingestehen, dass es nicht in seiner Macht stehen würde. Aber andererseits glaubte er kaum, dass die dieselbe Finte doppelt anwenden würden. Wozu auch? Um dann 100 Millionen zu fordern? Schwachsinn, nichts als Schwachsinn! Die würden Fornet freilassen und mit den 5,45 Millionen verduften.
Auch diesmal war sein Schlaf wenig erholsam. Immer wieder wälzte er sich im Bett herum, strampelte sich frei und mischten unerquickliche Gedanken sein Unterbewusstsein auf. Um halb fünf erhob sich Herr Schweitzer schwerfällig aus seiner Liegeposition. Im Zimmer war es kalt und klamm und es roch intensiv nach Kaffee und etwas, das er vage als warme Mahlzeit erschnupperte.
Er ließ es langsam angehen und rieb sich erst einmal den Schlaf aus den Augen. Aus dem Schrank angelte er sich seine Angoraunterwäsche, nicht dass es ihm so erging wie seinem Kumpel Schmidt-Schmitt, der halb erfroren von seiner Mission zurückgekehrt war. Er öffnete die Gardinen, um zu schauen, ob später auch Regenklamotten nötig waren. Es war trocken und bereits kohlrabenschwarz, obwohl die Nacht noch nicht begonnen hatte.
Dann folgte sein ausgeprägtes Spürnäschen den Düften aus der Küche. „Hallo, Maria. Oh, was gibt’s denn da Feines?“
Sie gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange. „Kaffee. Schätze mal, den wirst du brauchen. Mischa hat vorhin angerufen, ich weiß Bescheid. Pass bloß auf dich auf, nachher.“
Doch Herr Schweitzer machte wie immer keinen großen Bohei um seine Person: „Ach, das wird schon. Du weißt doch, ich bin unverwüstlich. Ich meinte eigentlich, was brutzelt da in der Pfanne?“
„Nur ne Kleinigkeit. Bratwurst mit Gemüse.“
„Super“, lobte Herr Schweitzer und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. „Hast du Lust, danach noch ins Weinfaß zu gehen?“
„Aber, Schatz, du musst doch nüchtern bleiben!“
„Hab ja auch nicht vor, mich zu betrinken. Aber soll ich hier rumsitzen und Däumchen drehen? Das bringt doch auch nix. Außerdem wird man davon ganz hibbelig.“
„Hast du auch wiederum Recht. Gut, ich komme mit.“
„Fein. Ich zieh mich jetzt an. Wann ist das Essen fertig?“
„Zehn Minuten, höchstens.“
Herr Schweitzer gönnt sich eine Pause
Im Weinfaß, eine seiner soliden Sachsenhäuser Stammkneipen, war um diese Uhrzeit natürlich noch nicht viel los. Am Wochenende, vornehmlich samstags, steppte hier des Öfteren der Bär. Und Maria und Herr Schweitzer manchmal mit ihm. Doch heute war Dienstag und da kam der Bär selten aus seiner Höhle. So kam es, dass außer Bertha, der eigentümlichen Wirtin mit dem großen Frankfurter Schlappmaul, nur noch ein Gast anwesend war, aber der hatte es in sich: Buddha Semmler, von Beruf Apfelweinkellner. Herr Schweitzer erkannte Buddha Semmlers Betrunkenheitsgrad – glasiger Blick, die rote Flüssigkeit in seinem mit der rechten Hand umklammerten, seitlich geneigten Weinglas gefährlich nahe am Verschütten – auf den ersten Blick. Semmler dürfte ohne Übertreibung um diese Uhrzeit das alkoholische Gravitationszentrum Sachsenhausens verkörpern. Aus Erfahrung wusste Herr Schweitzer, dass ein ganz normaler Smalltalk mit seinem gelegentlichen Zechkumpanen in dessem jetzigen Zustand ein recht mühsames, wenn nicht sogar unmögliches Unterfangen darstellte. Ebenso gut hätte er sich mit einem Inuit in dessen dörflichem Idiom über Schweizer Teilchenbeschleuniger austauschen können. Völlig absurd, zumal Buddha Semmler Maria und ihn mit einem Blick taxierte, der besagte: Irgendwoher kenne ich die beiden, woher bloß?
Wohlwissend, dass es nichts nutzen würde, nahmen sie an einem als Tisch dienenden, umgedrehten Weinfass – daher der Kneipenname – Platz, ungefähr sieben Meter vom Unruheherd entfernt.
Während Buddha Semmler augenscheinlich tief grübelnd in seinem Namensgedächtnis wühlte, kam die alte Wirtin, die nach eigener Aussage eisernen Willens war, das Lokal bis zu ihrem Tode zu führen, angedackelt. „Ei Gude, lange net gesehen. Was darf’s’n sein? En leckres Weinche?“
Herr Schweitzer warf einen Blick auf die neben dem Tresen angebrachte Schiefertafel,
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