Goethe
»Und es ist beglückend, das Fazit eines stürmisch bewegten Tages, das man sich halb furchtsam, halb freudig selber verbirgt, am Abend von verwandtem Munde ausgesprochen zu hören. Sie können sich ja ungefähr vorstellen, daß ein Mensch meiner Art nicht ohne triftigen Grund von der Statt seines geschlossenen Wirkens in die Welt hinaus geht. Aber von allen Gründen, die mich vertrieben haben, war der zwingendste doch sicherlich der, . . . .«
»Von den zu Bekannten zu den Unbekannten zu fliehen!« Als ob er sich zum erstenmal in seinem Leben bis aufs Lebendig-Nackte entblößte, ging Filangieris Gesicht auf. »Es ist derselbe, der mich die Lebensordnung der fernsten Völker studieren heißt, wenn mir mein neapelbefangener Geist . . . Aber führe ich Sie nicht von Ihrem Abendziel ab?«
»Im Gegenteil! Ich bin bei Hamilton geladen.«
»Also bringe ich Sie bis zum Tor.« Dieses Meer! Dieses Maß! Diese Helle! »So oft ich diesen Weg da fahre, wollte ich sagen, zwischen den Terrassen der Stadt, die ich liebe, und dem Meer, das sie aller Welt verbindet, wandert mein neapelbefangener Geist zu den Menschen dieser anderen Welt. Was taten sie, frage ich, damit sie wurden, wie sie jetzt sind? Und wie sind sie jetzt, um in hundert Jahren anders sein zu müssen? Entwickelt sich die Menschheit nach oben, und, wenn ja, kann man ihr den Weg dahin weisen oder wenigstens erleichtern? Und wenn ich nun daran denke, daß ich von meinem Volke mehr Rückgrat, von meinem König mehr Sinn für sein Amt, von diesem Hof aber, daß er sterbe durch Pest oder Schwefel! – kurz: von all jenen, für die ich doch arbeite, Mitarbeit nach ihrem höchstmöglichen Können verlange, – dann werde ich mutlos für ihre Erziehung und trostlos für mein eigenes Streben. Blicke ich aber gleich darauf hinaus auf dies Meer, das mir die ursprüngliche Wesenheit aller Menschen heranzuspülen scheint, dann stehe ich schon wieder auf festen Füßen, mit Freude allein; bedarf keiner Hilfe und keines Winkes mehr von Dank und Unsterblichkeit; und tue nur Eines noch: reinige mein Auge von dem Schleier der allzugegenständlichen Gegenwart und trachte darnach, unvoreingenommen von der Erfahrung der schon eingetretenen Möglichkeiten jene weiteren zu erraten, die der Menschheit für ihren Aufstieg noch vorbehalten sein können. – Sie glauben nicht an eine Vervollkommnung der Menschheit im Ganzen?«
»Solange ich selber vollkommen zu werden bestrebt bin, glaube ich daran!«
Fanatisch nahe, in sehnsüchtigstem Stolz rückte der Einsame an den Einsamen heran. »Soviel steht meines Erachtens zweifellos fest: die heutige Form der gesellschaftlichen Schichtung und der Verteilung der Macht kann keine endgültige sein. Nehmen wir an, es gelänge uns, den allgemeinen Schulzwang einzuführen und die Schule so zu gestalten, daß sie die Menschen zur Selbstverantwortung zu erziehen vermöchte. Dann . . . .«
» . . . . folgte alles Weitere aus diesem Ersten von selber!« Energisch setzte sich Goethe auf aus den Kissen. »Denn die Mehrzahl der Menschen ist noch nicht zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt. Man wollte es bisher nicht, daß sie dazu gelange, und, wie mir scheint, aus Gründen, die sich sehen lassen können. Vom Augenblick an jedoch, da man sich dazu entschließt, sie dieser geistigen Sklaverei zu entbinden, rollt der Stein ganz von selber fort. Ich, für meine Person, kann mir sehr gut vorstellen, daß dann – zum Beispiel– die monarchische Macht eingeschränkt wird, oder . . .«
»Durch – Volksvertretungen?«
»Gesetzgebende Gruppen von gewählten Vertretern des Volkes; jawohl! Aber auch, daß, noch später, die Monarchie überhaupt gestürzt wird.«
»Und das Volk König?«
»Das in der Schöpfung, im Prinzipe, unleugbar beschlossene gleiche Menschenrecht Jedes neu verkündiget wird!«
»Daß also Jeder nicht mehr Untertan, sondern Bürger sei und genau den gleichen Anspruch wie jeder Andere darauf genieße, seine Seele zu bekennen und sein äußeres Lebensglück zu gestalten?«
»Und daß man ihm die Möglichkeit schaffe zur Durchführung dieses Anspruchs; alle Hindernisse im Bestehenden, Geltenden forträume, die ihm verwehren, im großen Ganzen gleich aufzusteigen wie jeder andere. Die Leibeigenschaft, zum Beispiel, die Fronpflicht, das Jagdrecht, die Grundherrschaft, den Adel . . .«
»Das Erbrecht?«
»Warum nicht auch das Erbrecht?«
»Und: das Privateigentum?« Atemlos gespannt starrte das blitzende Auge das viel
Weitere Kostenlose Bücher