Goethe
griechisches, weißes Gewand – an die Balustrade heran. Beugte sich, angelangt, durch einen gleichgültigen Zwischenraum vom Manne getrennt, über die Brüstung.
Lange, gesucht schweigsam nebeneinander, verharrten sie so.
Als plötzlich, plötzlich wie eine Lampe, die unerwartet ein unerwartet Eingetretener entzündet, die Sichel des Mondes in den Himmel einstieg, fragte das Mädchen: »Ist es den Deutschen Bedürfnis, in Italien sentimental zu sein?«
»Es ist das schöne Vorrecht des Menschen,« erwiderte Goethe wie von der Sichel des Mondes herab, »dort, wo es schön, und dort, wo es höllisch ist, sich auf das zu besinnen, woraus er kommt.«
»Sie denken an einen alten Turm, um den Raben fliegen? An eine Stube, worin Äpfel hinterm Ofen schmoren? An Ihre Amme, die dick ist wie die Bäuerin auf einem Niederländer? Und an die Mutter?«
»An meinen Vater.«
» It's the same! «
Das Licht der steigenden Sichel rann im Meer von der Linie der dunkelpurpurnen Mitte an wie eine goldene Leiter hinab bis in die Brandung zu Goethes Füßen. »Er war,« sagte er sehr langsam, »als ich heranwuchs, düster; lebensfeindlich. Er dürfte gelitten haben, als er wahrnahm, daß der einzige Sohn seine Natur nicht besaß. In einem Korridor unseres Hauses hing, zwischen anderen, ein Stich von Neapel. Die Stadt, vom Meer aus gesehen. Ein freies, heiter hohes, schmales Haus stand mitten im Bild, hart am Ufer. Alle Fenster offen, das Dach flach, voll Sonne; rundum niedrigere trauliche Häuschen und Hütten; an der Mole davor die bewegteste Gruppe von Fischern, Weibern und Kindern. »In diesem Hause habe ich gewohnt, als ich in Neapel war,« sagte er zu mir an einem Winternachmittag, ich glaube, im Jahre 62, vor diesem Bilde. Ich hatte mittags eine ausgiebige Strafe bekommen, weil ich den befohlenen Aufsatz schleuderhaft gemacht hatte. Er war sehr böse gewesen; es hatte ihn zweifellos Angst vor meiner Zukunft befallen. Denn er war in allem die Konsequenz selber. Und nun nahm er mich, der gierig schaute, plötzlich mit beiden Händen, deren flehende Zärtlichkeit ich umso genauer spürte, je genauer er sie zu verbergen trachtete, vor seinen Leib hin und sagte mitten in meine Augen hinein: »Wenn du einmal hinabkommst, so suche das Haus auf und denke daran, daß ich, seitdem es mich aufgenommen hat, niemals mehr ganz unglücklich gewesen bin!«
»Wegen eines Hauses?«
»Ich konnte es bis heute nicht finden.«
Schellengeläute von Lachen. Mit einer jähen Bewegung – Sprung oder Gleiten im Tanzschritt? – kam das Mädchen ihm leibnahe. »Fürwahr: eine ebenbürtige Aufgabe für den – angeblich – berühmtesten Mann von Deutschland, im Paradies von Neapel ein zufälliges Haus aufzusuchen! Haben Sie die Hoffnung aufgegeben?«
»Ich habe es anderswo wiedergefunden.«
»Wo?«
Köstlich frei, Herr, hob er die Arme von der Brüstung. Sog mit langsamem Atem die verklärte Luft ein. »Ja, Vater! In Rom fühlte ich dich nicht! Aber jetzt fühle ich dich!« Und als spräche es Gelöbnis aus, Gebet um Verzeihung zu spät eingesehener Schuld und um Erlebung zu spät geborener Liebe, fuhr das Auge über die fast lautlose Flut unter der hoflosen Blendsichel des Mondes empor in die blutigen Schimmer überm Vulkan, die immer wieder aufsprießend die Flut röteten, die seraphische Inbrunst der Stille umdonnerten, dann in den wolkigen Dämpfen verblühten. Und blickte dennoch kindhaft lächelnd, wie vom Hirschgraben herab, von der Krone des Bockenheimer Tores, von Großmutters Stube, von der Wiese vorm Sachsenhausener Gasthofe, von Vaters Bibliothek herab in die blutigen Schimmer. »Der Vater hatte ein Paar Schuhe aus Rehleder besessen«, sagte er leise, »aus dem feinsten, vom besten Schuhmacher in Paris gefertigt; mit echtsilbernen, gehämmerten Schnallen. Diese Schuhe hatte ihm die Mutter ins Grab angezogen. Diese Schuhe stemmten sich nun immer gegen die Sargwand, so, daß die Spitzen der Sohlen über die Kante dieser Wand hinausragten, als ob sie, wenn es der eingesperrte Leib nicht mehr auszuhalten vermöchte in diesem Käfig, den Deckel absprengen könnten, – wenn sie genug Kraft dazu hätten. Da aber über dem Deckel vier Fuß hoch die Erde lag . . .«
»Nun?«
Spielend drehte sich Goethe nach dem Mädchen. »Ja, Vater! Aber die Söhne gehen weiter!« Trotzig, selbstsichere Flamme, stieg die dämonische Lust, zu spielen mit dieser schillernden, lauten, ewig geistbespuckenden Welt, ins Gesicht zurück, das grauenlos aus
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