Goethe
kühlere an, das in hartnäckiger Schausucht aus der milde erblinkenden Bläue des Meeres die pfundschweren Worte zu saugen schien. »Sagen Sie!«
»Ich brauche nur an die Geschichte vom Ananias zu denken,« antwortete Goethe sehr ruhig, »um das für möglich zu halten.«
»Also – Sie auch?«
»Warum soll die Menschheit nicht einmal daraufkommen, daß es einzig von ihrem Willen abhängt, wie sie ihr Leben einrichtet? Und daß es keineswegs ausgemacht ist, daß für immer und ewig der Eine Herr und der Andere Knecht sein müsse und über diesen Knechten der Staat stehe und so tue, als sei er vom Knecht und nicht vom Herrn gerufen? Und wenn sie daraufkommt . . . .«
»Revolution?«
»In der Natur heißt es viel unschuldiger! Natürlich tritt dann zunächst, wahrscheinlich, nur ein Rollenwechsel ein. Aber daß die natürliche Folge von zehn, zwanzig oder dreißig solchen Eruptionen im Lauf der Zeiten nicht endlich auch über diesen Rollenwechsel hinauskommen und zuletzt wirklich einen Staat schaffen werde, der ganz anders aussieht als jeder heutige und trotzdem dem Willen der Schöpfung und dem Bedürfnis der Menschheit entspricht, – wer weiß das?«
»Wenn uns unsere Souveräne hörten!« jauchzte Filangieri; wie Flamme, in der Seligkeit, den Bruder gefunden zu haben, strahlte er. »Sie und ich: nach Tradition, Aussehen und Ruf festeste Stützen des Thrones! Und denken so!«
»Karl August würde das ganz brav anhören.«
»Aber mein Ferdinand! Und erst Maria Carolina! Ein einzigesmal habe ich ihr zu verstehen gegeben, daß ein Volk genau so gut ein Organismus sei, – und sich also entwickeln müsse – wie alles andere lebend Geschaffene. Und sie hat sich bekreuzigt vor mir! Daß nämlich gerade wir Vorurteilsfreien die Gegenwart nur deshalb so gewissenhaft verteidigen, um den künftigen Ereignissen nicht auch das letzte Fundament gesellschaftlicher Wiederherstellung zu entziehen, . . .«
»Das ist vollkommen richtig!« Fest, ohne sich noch zu besinnen, schlang Goethe den Arm um die drängende Schulter. »Menschen wie wir hassen die Unordnung!«
»Die Anarchie und den Terror, den jede Revolution schaffen muß! Aber deshalb leugnen, daß Umwälzungen so naturbedingt geschehen müssen wie Gewitter und, wenn sie nur nicht in der Anarchie versumpfen, Stadien der Metamorphose zu einem höheren Leben sein können, – gotteslästerliche Dummheit! Wenn ich mich nämlich nicht täusche . . .«
Da hielt der Wagen genau überm Tor des Casino Hamilton.
»Und wenn ich mich nicht täusche,« lächelte Goethe, kaum daß er ausgestiegen war, und lehnte sich vertraulich bequem an den Schlag, »dann ist es so: im Menschen leben zwei Triebe: der nach der Erhaltung seiner Gattung, und der nach der Ausbildung seines Individuums. Der letztere, scheint mir, wird in der nächsten Zukunft allmählich den ersteren verdrängen. Anstatt der einförmigen Masse des Volks werden unsere Erben die Menge der von einander verschiedensten Individuen erleben. Diese Entwicklung löst dann die Staaten von selber auf. Sobald sie aber . . . . . .«
» . . . so weit ausgebildet sein wird,« sprang Filangieri bereit ein, »daß sich die Individuen geradezu davor fürchten müssen, – denn sie macht sie ja einsam und weglos . . .«
»Es ist zum Staunen!« Seine ganze brennende Leidenschaft für Geist schoß Goethes Blick in den brüderlichen, der aus unverhüllter Wonne heraus ihn berief. »Wir verstehen uns, ohne einander zu kennen. Gleichgesinnte, – Gleicherfahrene! Dann, nämlich, meine ich, wird der Trieb nach Erhaltung der Gattung wieder durchschlagen, neuen Zusammenschluß aller Gesonderten zur Gattung begehren, – und dann erst kann die neue Form der Gesellschaft gefunden werden. Leider sind wir dann lang schon im Grabe!«
»Aber wenigstens vorgeahnt haben wir es!« Leidenschaftlich neigte sich der schlanke Schädel herab zum demütig gesenkten. »Herr von Goethe, es darf nicht das letztemal gewesen sein, daß ich Sie sehe! Sie wissen es genau so gut wie ich, wie allein Unsereiner ist und verlassen, und . . .«
»Das ist unser Leiden, aber auch unser Glück!« Bist du wieder da, bittere Träne in der zuckenden Wimper? Aber – schimmerst nun Lachen? »Ich gehe nächster Tage nach Sizilien.« Ja, jetzt war es entschieden! »Aber sobald ich zurück bin, melde ich mich an. Und dann . . .«
Leicht, aufrecht, trat er vom Wagen fort in die Straße. »Dann reden wir weiter!«
»Ohne Ende! Es gibt gar kein
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