Goethe
Spitzen, die Kreuze, die Zinnen aus dem bannenden Stein; und verleugneten allesamt Vater und Mutter, Heimat und vorausdeutbares Schicksal, liefen dem lockenden Lichte nach und flehten im Drang nach Erleuchtung, Bereicherung, Befreiung, – nach Wahrheit: »Erkläre! Erhelle! Für immer! Und alles!« Und wollten nicht den kommenden Morgen noch abwarten, nicht noch die kurze Nacht, die sie trennte von der Wiederkehr der begeistert Geliebten, durchwachen in Sehnsucht und Müdsein vor der schon geschenkten, schon scheinenden Leuchte, – nein! »Reiße uns nicht wieder los von dir, Sonne!« begehrten sie ungestüm mit all ihren Stimmen der schmeichelnden, der trostlosen und der triumphierenden Liebe, »sondern nimm uns, o Sonne, mit dir!« Diese aber, die Sonne, bedurfte keiner Wolken, hersegelnden aus den Düften über dem ungeduldig wartenden Meere, und keiner Schleier, aufsteigenden aus den nebligen Trichtern der Sümpfe, und keines vorzeitigen Niedersteigens aus dem gemächlich durchwanderten Himmel, um plötzlich, auf einen Schlag, Schatten zu machen; Dämmerung; Dunkelheit; Nacht. Die ungestüm Rufenden blitzten noch, blinkten noch, nichts hatte ihre schöne Gebärde hinstrebenden Brennens gebrochen. Zu ihren Füßen aber, zu ihren Seiten aber, vor ihren verlangenden Händen, hinter ihren weit vorgebeugten Schultern aber stand nun, saß, lagerte, kauerte, herrschte der Schatten; die Dämmerung; das Dunkle; die Nacht. Und als ob sie niemals noch Licht gesehen hätten und niemals schon halbes Licht gewesen wären, starrten sie mit der Blindheit der Blendung in die aufgerissenen Rachen der Finsternis: in die blauen Zypressenwälder, die die frascatische Weiße begruben; in die Schluchten, worin das Schwarze brodelte zwischen den goldgirrenden Prächten der Felsen; in das drohend nächtige Auge des Sees von Albano, in dessen farbloser Mitte der farblose Spiegel des farblosen Klosters von Pakazzuola grinste; in die verballte Masse der Kastelle, Kuppeln und Dächer von Gandolfo unter dem immer noch vollen Orangelicht der Rocca di Papa. Bis plötzlich, herabgeglitten plötzlich von den Halden und Hängen in die traurige Flucht der Campagna wie ein Geist von der Stirn, die sich nicht mehr zu wehren wagt gegen den Widergeist Luzifers, der Schatten, die Dämmerung, das Dunkle, die Nacht aus dem grenzenlosen Raum zwischen dem Streifen des Meeres und dem letzten Strahl Lichts in den Ästen der Linde zurückhöhnte in die entseelte Sehnsucht nach Erleuchtung, Bereicherung, Befreiung, nach Wahrheit, – und die Sonne versank.
»Licht und Finsternis, Finster und Licht!« atmete die Brust des reglos Schauenden in ihre Tiefe hinab; und in ergebenem Begreifen neigte sich das umschattete Haupt. »Und je voller das Licht kam, desto voller auch immer das Dunkel; und im Dunkel noch steh ich auch heute! Wird es ganzes Licht werden, bevor ich da scheide? – Es ist ein Stück Wahnsinn in jedem Abschied!« stieß er wie im Krampf hervor; und sah erst nachher, daß da Zwei standen, die hörten. Und sagte drum gleich darauf, ehe sie noch laut oder stumm fragen konnten, mit vollendeter Ruhe: »Immerhin: kommt man mit so vielen Fasanen im Schifflein nach Hause, und wäre dies Zuhause auch nur eine Hütte aus Lehm mit einem Lager aus Streu und einem zerbrochenen Tische aus Marmor . . . ..«
»Aus Marmor?« lachte Kayser hell auf. »Tisch aus Marmor in Weimar?«
»Gotteswillen!« stieß ihn Bury empört in die Seite: er hatte den entsetzten Blick aufgefangen, den blitzschnellen Schritt ersehen, mit dem der Getroffene in den Vorhang des Waldes hinabfloh. »Unglücksmensch! Rabe! Was taten Sie?«
»Er sagte mir gestern abend doch selber,« stammelte Kayser – brennrot schaute er den Zweigen nach, die über dem Geflüchteten zusammenschlugen –: »trotzdem ich keine größere Seligkeit kannte, hat er gesagt, als hier zu sein, und keine größere kennte, als hier zu verbleiben, – die Frucht meines Lebens muß doch im Norden aufgehen; bei den Meinigen!«
»Bei den »Meinigen«?«
»Er liebt sie ja doch alle!«
»Wirklich und wahrhaftig: bei den ›Meinigen‹ hat er gesagt?«
»So wie ich ihn errate,« – noch immer verzagt flüsternd redete Kayser – »denke ich nämlich: käme er nach diesem ersten Mal noch einmal herab nach Italien, – glauben Sie mir: keine einzige Saite seines Wesens finge neu an zu schwingen. Er hat Italien aufgefressen, mit Haut und Haaren verzehrt dieses erste Mal, und muß nun nach Haus, um es erst zu
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