Goethe
ungebrochen hinab nach dem Palazzo Venezia; ungebrochen schwarz und lautlos wie der Tod. Ging man eine Weile lang mit dem stürzenden Gefälle dieses Zuges, dann hoben sich mählich aus dem Nichts der lichtlosen Gleitung: Säulen eines Portikus, Giebel eines Fensters, Rund eines Tores, gesetzmäßiger Gliederbau einer ganzen Fronte, und protzig rasch wieder offenbarte die Lebendigkeit die Übermacht ihrer leidenschaftlichen Formen über das Loch des Todes. Grub sich nun aber das Auge, mitgerissen in ihren verwegenen Mut, in eine dieser wiedergeborenen Formen ein und schrie überschnell: Leben, du siegst! – dann verfloß die Form höhnisch von neuem der Nacht, und gesetzmäßiger Gliederbau ganzer Fronte, Giebel des Fensters, Rund des Tores, Säulen des Portikus, überwältigt sanken sie zurück in die Magie des zeitlosen, raumlosen Nichtseins.
Oder war das nur Schein? Bildete sich das Auge diesen Vorgang nur ein, weil auch die Medusa so werdend langsam hervorgewachsen war aus dem Pechschwarz? Die gedrehten Leiber der Schlangen zuerst. Dann der schweißgepreßte Bogen der Stirn. Dann, aufgebläht auf einmal, weil hinangedrängt von dem glitschigen Eis der Schlangenschnüre an die Wände der Nase, die Wangen. Endlich die entsetzte Leere der Augen. Allerdings: den gewöhnlichen Schauder des lebendigen Atems vor dem Tod nur – und also nur Leben! – sprach diese plötzliche Auferstehung aus. »Zwischen Geburt und Tod bin ich!« verkündete sie ohne übernatürliche Furcht, ganz ergeben in das natürlichste Gesetz. »Die Sekunde zwischen der letztverrauschten und der nächst rollenden!« Und verstummte schon wieder. Und nicht, daß die Schlangen nun etwa den Mund verknebelt hätten, der den Hauch dieser Worte noch trug, die Haare zu Berg stiegen und die Flüsse der Angst niederflossen in die Becher der Augen. Dies alles war schon geschehen und konnte nicht mehr geschehen. Nein! Einfach tot war das Antlitz jetzt; schenkte sich – weder dem Gestern noch dem Morgen gehörend – mit der teilnahmlosen Ruhe des Gewesenseins, ewig, der Finsternis wieder.
»Unerträglich! Unerträglich! Unerträglich!« Und rasch, noch bevor Tischbein nur zucken konnte, breitete Goethe – sie waren am Fuß der Kapitolstreppe angelangt, die wie ein Milchbach in den blauen Ufern der Steinnacht herablief – den Mantel auf der untersten Stufe aus und ließ sich in den Mantel nieder.. »Hunderttausendmal jeden Tag, vor jedem Kunstwerk,« stieß er unheimlich eilig heraus, »predige ich mir vor: sieh nur das Kunstwerk! Irre nicht ab von seiner Objektivität in das, was es in dir und rundherum in allem, was lebt, aufrührt! Aber umsonst! Selbst vor den Bildern des gewissesten Todes, der das Leben bis auf Stumpf und Stiel schon verzehrt hat, sehe ich nur: Leben! Mein Leben! – Ist das nicht jammervoll?«
»Im Gegenteil!« Tischbein hatte, für seinen Platz, über Goethes Mantel noch seinen eigenen gelegt. Nun saß er, unter dem ungeheuer gespannten Sternhimmel, auf der michelangelesken Treppe fast behaglich, gemütlich. Gerade nur solch ein subjektiver Standpunkt stelle, tröstete er ausgesucht, das organische Verhältnis zwischen Kunst und Leben her. Einen prüfenden Seitenblick warf er; es gab Sekunden, in denen er dreinsah wie ein gewiegter Accusatore. »Wenn ich an Ihre Iphigenie, zum Beispiel, denke . . . . .«
Unwirsch wetzte Goethes Körper den Marmor. »Man kann dagegen sagen, was man will: für jeden ist sein eigenes Leben das Leben der Welt; oder umgekehrt. Und ich bin erst noch ein besonders unsentimentaler Mensch. Mir gilt jede Gegenwart mehr als jedwede Vergangenheit. Da in Rom aber ist alles, was ich noch erleben könnte, – alles, was überhaupt erlebt werden kann – schon erlebt worden. Nach sechs Wochen Da-Sein komme ich mir noch immer wie im Hochofen der Geister der anderen vor. Schwer, – fast unmöglich, sich hier zu behaupten!«
»Warten Sie nur!« Ohne das geringste Mitleid lächelte Tischbein. »Eine ungeheure Ernte werden Sie haben.«
Sternlicht, im Zenith des Bogenhimmels, flammte weiß und bewegt wie Fanal des Winkens. Fieberhaft suchte das wirre Auge in ihm. »Nicht mehr herauskommen aus dem Labyrinth werde ich! Das wird das Ende sein!« Kratzend klang die vergewaltigte Stimme. »Wenn ich Sie, zum Beispiel, Ihren ›Paris‹ malen sehe und in jedem Pinselstrich den unerbittlichen Willen errate, in der Kunst auf eigenen Füßen zu stehen! Ich habe noch heute kein anderes Urteil als das des
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