Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
im Gebüsch Richtung Silberblick, so wie Siggi zuvor.
6. Kapitel
Samstag, 28. August 2004. Der Tag, an dem ich mich wieder frei fühlte.
I ch brauchte einen ganzen Tag, um mich einigermaßen von der neuerlichen
Ablehnung meines Heiratsantrags zu erholen. Den gesamten Freitag über hatte ich
mich im Krankenhausbett umhergewälzt, gegrübelt, mir den Kopf zermartert, mich gequält.
Gab es noch eine Chance für Hanna und mich?
Nur eine Frage lenkte mich kurzzeitig
von diesem entscheidenden Gedanken ab: Wie kam ich am Montag zu meiner Vorlesung
nach Frankfurt, ohne Ärger mit der Polizei zu bekommen? Dr. Franke sah keine Chance,
Siggi konnte mir nicht helfen; Sophie meinte, ich solle hier bleiben, um mich zu
erholen, und Benno ging zu Polizeipräsident Göschke.
Für mich war Göschke, der Mann mit
der Fagottstimme, ein rotes Tuch. Wir kannten uns von dem Jens-Gensing-Fall, hatten
uns seit damals allerdings nur einmal wiedergesehen, zufällig, in der Schillerstraße.
Ich konnte nicht behaupten, dass ich ihn hasste, aber seine Anwesenheit war mir
extrem unangenehm. Insofern war ich sehr froh darüber, dass Benno mit ihm sprechen
wollte. Immerhin musste Göschke seinerseits den Haftrichter überzeugen, das war
nicht einfach. Heute, am Samstag, würde die Entscheidung fallen. Ich machte mir
keine großen Hoffnungen.
Gegen 11 Uhr verließ ich das Krankenhaus.
Da ich wegen des Gipsarms nicht fahren konnte, holte Benno mich ab. Als ich vor
die Tür trat, hielt ich einen Moment inne. Die Sonne schien, nicht zu heiß, etwa
25 Grad im Schatten, ein leichter Wind kam von den Feldern bei Gelmeroda herüber.
Ein Wetter zum Helden zeugen – hätte mein Vater gesagt. Und das Wichtigste: Ich
war frei. Keine Gefängniszelle mehr, kein Krankenbett. Ich fühlte sie, ich spürte
sie, diese Freiheit, des Menschen höchstes Gut.
Unwillkürlich musste ich an Hanna
denken, die eigentlich dazu prädestiniert war, meine Freiheit zu vervollständigen.
Stattdessen würde ich nun wohl viele karge Nächte verbringen. Ich wusste nicht,
ob ich die Welt loben oder verfluchen sollte, und so blieb ich in der Mitte stecken,
mit einem leichten Grinsen auf den Lippen und einem dicken Kloß im Hals.
Langsam stieg ich in Bennos Auto.
Wir fuhren Richtung Stadtmitte. Als wir die Berkaer Straße hereinkamen, umfing mich
meine Weimarer Stimmung. Klar und beschützend, bekannt und doch immer wieder neu.
Meine Stadt – mein Weimar.
Benno bog links ab Richtung Wielandplatz,
um dann vor der Gartenmauer des Goethehauses rechts in die Ackerwand einzubiegen.
In Goethes Nähe fühle ich mich immer sehr wohl. Natürlich befindet er sich selbst
nicht mehr hier, aber sein Haus strahlt so viel Atmosphäre aus, wie ich es bei keinem
anderen Gebäude je erlebt habe. Es wirkt immer noch wie ein Wohnhaus, wie ein Refugium,
das der Hausherr nur kurz verlassen hat, um bald wiederzukommen. In vielen anderen
Museen sind die Exponate mit wichtigtuerischen Schildern beschriftet, wie Voyeuren
dargebotene optische Delikatessen, künstlich gespickt mit exotischen Gegenständen,
die sich zu Lebzeiten der Bewohner nie dort befunden hatten. Authentisch – so möchte
man die Atmosphäre im Goethehaus bezeichnen. Manche meiner Mitmenschen finden es
ziemlich schräg, dass ich einmal pro Woche hierher komme. Ich finde das normal.
Am Haus der Frau von Stein bogen
wir ab Richtung Schloss. Wir ließen den historischen Bau der Herzogin Anna Amalia
Bibliothek, das sogenannte ›Grüne Schloss‹, rechts liegen. Es stand kurz vor der
Renovierung, nach jahrelangem Hin und Her war ein aufwendiges Programm beschlossen
worden. Endlich war klar: Das historische Gebäude mit dem berühmten Rokokosaal und
dem angrenzenden Bücherturm sollte grundsaniert werden. In Kürze würden die Arbeiten
beginnen. Benno zog am großen Residenzschloss mit dem typischen grauen Turm vorbei,
passierte den Marstall und überquerte die Kegelbrücke. Ein kühler Luftzug wehte
von der Ilm herauf. Ich atmete tief ein und genoss den Augenblick. Ja, trotz meiner
unentwegten Gedanken an Hanna wagte ich, den Moment zu genießen.
Wir kreuzten die Jenaer Straße und
fuhren direkt in die Tiefurter Allee hinein. Wenig später hielten wir vor Bennos
Elternhaus. Tante Gesa und Onkel Leo erwarteten uns bereits vor der Haustür.
»Jetzt bräuchte ich eine Thüringer
Rostbratwurst und ein kühles Ehringsdorfer!«, rief ich vom Gartenzaun.
»Und genau das bekommst du, mein
Junge!«, antwortete Onkel Leo. ›Mein
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