Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
Zu
DDR-Zeiten musstet ihr wählen gehen, und es war nicht mehr als ein abgekartetes
Spiel, heute haben wir freie Wahlen, und du gehst nicht hin?«
»Na eben, jetzt muss ich
ja nicht mehr.«
Es geschah etwas, was sehr selten
passiert: Ich war für einen Moment sprachlos. Solch eine simple, zugleich perfide
Argumentation, noch dazu aus dem Mund einer gebildeten Frau mit Weitblick und Erfahrung
empfand ich wie einen Schlag ins Gesicht.
»Hendrik, bitte nicht schon wieder
…« Benno hatte keine Chance.
»Sophie«, rief ich dazwischen, »jetzt
lebst du in einer Demokratie. Demokraten haben nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten,
und eine davon ist das Wählen!«
»Ach, du mit deinen Wessi-Sprüchen!«
Ich schluckte. »Aha, bisher war
ich ein Freund, jetzt bin ich also nur noch ein blöder Wessi, oder wie?«
Sophie antwortete nicht. Sie ging
die Granitstufen hinunter in den Garten und begann, Tante Gesas Astern zu gießen.
Ich sah Benno an, der sich mit der Hand durch seinen dunklen Bart fuhr. Das machte
er immer, wenn er unschlüssig war. Ich begriff, dass sich unser Team um eine weitere
Person reduziert hatte. Zuerst Siggi, dann Hanna, nun Sophie – schlechte Bilanz.
Immerhin konnte ich mich auf Benno verlassen, das war klar. Und ein Freund
ist immer noch besser als kein Freund. Zudem hatten wir noch einen Rechtsbeistand
und einen alten Kämpfer, zwar mit Handicap, aber mit wachem Geist und Erfahrung.
Ich drehte mich um und griff nach
meiner Jacke.
»Wo willst du hin?«, wollte Benno
wissen.
»Nach Hause. Danke fürs Essen.«
»Soll ich dich fahren?«
»Nein, ich brauche etwas frische
Luft, vielleicht kannst du mir meine Sachen aus dem Krankenhaus auf dem Heimweg
vorbeibringen?«
»Kinder, warum müsst ihr euch denn
streiten?«, fragte Tante Gesa dazwischen.
Onkel Leo nahm ihre Hand. »Lass
nur, Gesa«, sagte er ruhig, »die Kinder sind erwachsen und dürfen sich auch mal
streiten.« Zu mir gewandt fuhr er fort: »Da ihr euch in meinem Haus gestritten habt,
erwarte ich allerdings, dass ihr euch wieder einigt, und zwar mit Stil und Anstand.
Das gilt sowohl für deinen Konflikt mit Sophie als auch für den mit Hanna. Ich denke
… ihr beiden gehört zusammen. Sag mir bitte Bescheid, wenn beides geklärt ist!«
Ich war überrascht über seine klaren
Worte. Bei jedem anderen Menschen hätte ich das als unangemessene Einmischung betrachtet.
Allein Onkel Leo durfte so etwas sagen.
»Das sind … zwei schwierige Aufgaben«,
sagte ich.
»Stimmt, aber du wirst es schaffen,
mein Junge! Denk an das Urvertrauen, das zwischen zwei Menschen herrscht. Wenn dieses
Urvertrauen einmal da war, dann kann es nie mehr gelöscht werden.«
Der Heimweg führte mich die Tiefurter Allee hinab, am Goethe- und Schillerarchiv
vorbei über die Kegelbrücke. Als ich den Fluss überquert hatte, wollte ich gerade
rechts abbiegen Richtung Untergraben und Rollplatz, als mir einfiel, dass ich mich
seit Montag nicht mehr an meinem Arbeitsplatz in der Bibliothek gemeldet hatte.
Es wurde Zeit. Und ich wusste, dass unser Direktor, Dr. Michael Knoche, jeden Samstag
in der Bibliothek war. Er nutzte den Tag zum Selbststudium, zum Lesen und Recherchieren,
Dinge, für die er während des Wochenbetriebs keine Zeit fand. Wie spät war es? Meine
Armbanduhr konnte ich derzeit nicht tragen, wegen der Kunststoffschale am linken
Arm. Ich sah auf die Uhr am Turm des Residenzschlosses, halb vier, er würde noch
dort sein. Ich ging den leichten Anstieg zum Schloss hinauf, ließ das ›Café Resi‹
rechts liegen und bog in das Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek
ein. Hoffentlich würde mir der alte Miesepeter Albert Busche nicht über den Weg
laufen, den konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Ich hatte Glück, kein Busche weit
und breit, und Dr. Knoche war tatsächlich noch in seinem Büro. Er befand sich im
Aufbruch, wollte gerade nach Hause gehen und schien alles andere als begeistert
zu sein über meinen Auftritt.
»Der Herr Wilmut – die ganze Woche
über lassen Sie sich nicht sehen und dann kommen Sie am Samstagnachmittag, wenn
ich ins Wochenende gehen möchte?«
»Tut mir leid, Herr Knoche, hat
Sie Herr Kessler nicht angerufen, hier, deswegen …« Ich hielt den Gipsarm in die
Höhe.
Dr. Knoche war sofort milde gestimmt.
»Ach so, na, das hätte mir der Stadtrat ja gleich sagen können, er tat irgendwie
so geheimnisvoll, so umständlich, ich weiß nicht …«
»Wie die Politiker eben so sind!«,
bemerkte ich lächelnd und Knoche
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