Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
Gleichgewicht halten und griff instinktiv
mit der rechten Hand nach der Garderobe. Einerseits war das meine Rettung, sonst
wäre ich wohl der Länge nach auf die Fliesen im Flur geschlagen. Aber die Garderobe
selbst war nicht mehr zu retten. Mit einem lauten Schlag riss ich drei Schrauben
samt Dübel aus der Wand, sodass das Gestell samt meinen Jacken nur noch an einer
einzigen Schraube hing und gefährlich dem Absturz preisgegeben war.
Es klingelte erneut, diesmal etwas
stürmischer. Erstaunt schaute ich durch den Spion der Wohnungstür. Das Gesicht kannte
ich. Ich schob den mächtigen Riegel beiseite und öffnete die Tür.
»Hallo, Benno!«, rief ich erfreut.
»Was machst du denn hier?«
»Ich bringe deine Sachen aus dem
Krankenhaus«, antwortete er und hielt meine Reisetasche und den blauen Beutel hoch,
»außerdem wollten wir im Internet recherchieren, oder?«
»Ach ja, hatte ich ganz vergessen
…«
»Verabredungen zu vergessen, ist
ja deine Spezialität.«
»Benno!«
Er grinste und klopfte mir auf die
Schulter. »Ich kenne dich doch.«
Seine Wahrheitsliebe war manchmal
überwältigend. Er besah sich kopfschüttelnd meine Garderobe.
»Kleiner Unfall …«, erklärte ich.
»Hab’s gehört.« Er ging ins Wohnzimmer.
»Was ist denn das?«, fragte er und zeigte auf die halb ausgepackte ECM-4.
»Meine neue Espressomaschine«, antwortete
ich, und während ich es aussprach, fiel mir ein, was fehlte. »Apropos, bevor wir
mit der Recherche beginnen, müssen wir etwas ganz Dringendes erledigen.«
Er lachte. »Du leidest unter Espressoentzug?«
»Richtig.«
»Kein Problem, ich habe Zeit.«
»Das klingt ja sehr entspannt.«
»Stimmt, denn ich werde bei dir
übernachten.«
»Wie bitte?«
»Hast du etwas dagegen?«
»Nein, natürlich nicht, aber warum
…« Ich stockte. »So, so, du spielst jetzt also Polizeischutz?«
»Einer muss es ja tun, und da du
alle anderen vergrault hast, ist nur noch dein alter Kumpel Benno übrig geblieben.
Zumindest übers Wochenende.«
Ich wusste nicht, ob ich mich freuen
oder ärgern sollte. Während ich die beiden Alternativen abwog, öffnete Benno meine
Wohnungstür, holte seine Reisetasche herein, die er offensichtlich im Hausflur geparkt
hatte, schloss die Tür wieder und marschierte in mein Arbeitszimmer.
»Ich nehme die Couch«, rief er,
und bevor ich überhaupt antworten konnte, war er wieder im Wohnzimmer und begann,
die ECM-4 auszupacken. Wir brachten sie in die Küche. Es dauerte fast eine Stunde,
bis wir die Maschine in Betrieb genommen, gereinigt und durchgespült hatten. Anschließend
erfolgten mehrere Testdurchläufe, währenddessen der Mahlgrad an meiner Kaffeemühle
neu eingestellt werden musste.
»War das schlimm für dich heute
Nachmittag?«, fragte ich. »Mein Disput mit Sophie?«
Er stellte seine Espressotasse ab.
»Wir können solche Dinge eigentlich gut trennen, schließlich führen wir keine Ehe,
in der immer beide derselben Meinung sein müssen. Dass ausgerechnet du der Kontrahent
warst, macht die Sache für mich natürlich nicht einfacher. Trotzdem konnten wir
die Angelegenheit erst einmal ausklammern und haben einstimmig beschlossen, dass
ich vorläufig deinen Schutz übernehme. Im Übrigen habe ich nichts anderes von ihr
erwartet, Sophie war schon immer ein unpolitischer Mensch.«
»Ja, schon, aber das mit den Wahlen
…«
»Bitte, Hendrik, ich bin absolut
deiner Meinung, aber du kannst das niemandem aufdrängen. Sie ist eine tolle Frau
und eine Spitzenärztin. Wie könnte ich mehr erwarten? Kein Partner kann alle Träume
erfüllen.«
»Nein?«
»Nein!«
»Auch nicht Hanna?«
»Auch nicht Hanna!«
»Sicher?«
»Ganz sicher!«
Ich seufzte. Espresso Nummer vier.
Langsam waren Crema und Geschmack so, wie ich mir das vorstellte. Benno war schon
immer ein aktiver, energievoller Mensch gewesen, heute jedoch übertraf er sich selbst.
Ohne große Worte schnappte er sich meinen Werkzeugkoffer aus dem Arbeitszimmer und
reparierte die Garderobe, keine Dauerlösung, aber zumindest so, dass sie einige
Wochen halten würde. Dann bugsierte er mich zu meinem Schreibtisch und schaltete
den Laptop ein.
»Schreib das Gedicht aus dem Kassiber
bitte noch mal auf, ich muss das vor mir sehen!«, sagte Benno.
Ich tat, was er wünschte, zum Glück
war mein linker Radiuskopf gebrochen und nicht der rechte.
Nun stehst auch Du da wie ein
Tor!
Seine Lieben gehen vor,
Frauenstein und Jändertanz,
Sind nun Deine letzte Chance!
BB618c
»Hast du eine
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