Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
aufzupassen. Habe zwei Tage Urlaub dafür geopfert.«
»Aha«, rief ich erbost, »und warum
ziehen Sie dazu einen uralten Jogginganzug und ein grünes T-Shirt an?«
»Ich bin kein Freund des Joggens.
Den Anzug hatte ich zuletzt vor 15 Jahren an. Eine bessere Tarnung ist mir nicht
eingefallen. Und das T-Shirt ist – na ja … eben ein Polizeihemd.«
Langsam wurde mir klar, was ich
getan hatte. Die Leute im Atrium standen um uns herum und warteten, was passieren
würde. Hanna hatte sich auf eine Bank gesetzt, sie schien ebenso verwirrt wie ich.
Allein Hauptkommissar Volk behielt die Nerven. Er tupfte sich mit einem Taschentuch
das Blut vom Kinn und meinte: »Setzen wir uns?«
Ich war sehr erstaunt, hatte eher
mit einem Wutausbruch seinerseits gerechnet. »Sind Sie nicht … sauer auf mich?«
»Ein wenig schon, aber ich weiß,
in welcher Lage Sie sind. Vielleicht hätten wir Ihnen sagen sollen, dass ich Sie
… beschatte. Und gleichzeitig beschütze.«
Ich sah ihn unschlüssig an.
Er tastete seine Oberlippe ab. »Aber
zumindest könnten Sie sich für den Schlag entschuldigen!«
»Ach ja, Entschuldigung, natürlich,
entschuldige bitte!« Ich gab ihm die Hand. »Ich heiße Hendrik!«
Er hatte einen kräftigen Händedruck.
»Autsch!«, rief ich und zog meine
Hand zurück.
Volk sah mich erstaunt an. »Ich
heiße Richard.«
Ich hielt meine rechte Hand hoch.
Der Mittelfinger war ungefähr auf das Dreifache angeschwollen.
»Dein Finger ist gebrochen!«, stellte
Richard fest.
»Meinst du?«
»Ja. Muss dringend in Gips gelegt
werden!«
Ich fand das nicht besonders lustig,
musste aber trotzdem lachen. Und Richard lachte mit, ebenso alle umstehenden Passanten.
Auch Hanna lachte. Ich liebte dieses Lachen. Keine Ahnung, wie es passierte, jedenfalls
saß ich in dem ganzen Gewühl plötzlich neben ihr auf der Bank. Kaum hatte ich das
realisiert, berührte mich für einen kurzen Moment ihre Hand. Es war nur ein sehr
kurzer Augenblick, den wohl keine Uhr hätte messen können. Doch ich fühlte sofort,
wie gut das tat. Und ich fühlte etwas, das mich an unsere Jugend erinnerte, an die
Abschiedsszene bei der alten Friedhofsmauer, hinten im Silberblick, als wir ein
goldglänzendes DDR-20-Pfennig-Stück vergraben hatten und beschlossen, wenn einer
von uns beiden es wiederfinden sollte, dann würden wir heiraten. Wir hatten nie
wieder davon gesprochen. Überhaupt hatten wir über einiges nicht gesprochen.
Zum Beispiel über die Frage, ob es ein Urvertrauenzwischen uns gab.
Die Passanten hatten sich mittlerweile
zerstreut, nur Richard Volk stand noch neben uns. Er gab Hanna ein Zeichen. Sie
stand langsam auf und sagte: »Es ist Zeit, Siggi wartet auf uns!«
Ich wusste nach wie vor nicht, wie
alles zusammenhing, doch es war mir egal.
Als Hauptkommissar Volk, Hanna und
ich 20 Minuten später den Besprechungsraum des K1 betraten, warteten dort bereits
mehrere Personen: Dr. Franke, Kriminalrat Lehnert, KOK Meininger, Kommissar Milster
vom K2, das sich mit Eigentumsdelikten beschäftigte, eine Uniformierte, eine Schreibkraft,
die uns als Frau Sobeck vorgestellt wurde, sogar Polizeipräsident Göschke war erschienen
– und Siggi.
Lehnert trug wie immer einen dunklen
Anzug. Er sah auf seine Uhr. »10.30 Uhr, Herr Wilmut, wir warten bereits seit einer
halben Stunde auf Sie!«
»Ich, äh … dachte … um elf, oder
…«
»Er hat seine Uhr sonst am linken
Arm, da ist jetzt der Gips, verstehen Sie?«, sprang Hanna ein.
Lehnert knurrte vor sich hin, Dr.
Franke lächelte und aus dem Hintergrund ertönte eine fagottähnliche Stimme, die
ich schon lange nicht mehr gehört hatte. »Dann fangen Sie endlich an, Lehnert!«
»Natürlich, Herr Polizeipräsident.
Bitte nehmen Sie Platz!«
Ich drängelte mich neben Hanna.
Dr. Franke saß an meiner anderen Seite, Siggi mir gegenüber. Unsere Blicke begegneten
sich kurz. Zurückhaltend. Unsicher. Ich versteckte meinen geschwollenen Finger,
Volk versuchte ständig, die Hand vor seine Oberlippe zu halten.
Kriminalrat Lehnert räusperte sich.
»Meine Damen und Herren, in Anwesenheit der beiden Beschuldigten, Hendrik Wilmut
und Hanna Büchler, sowie deren Anwalt, Dr. Franke, möchte ich einen offenen Bericht
der bisherigen Erkenntnisse im Fall Fedor Balow geben. So wird er von uns derzeit
noch bezeichnet.«
Ich verstand überhaupt nichts.
»Ich möchte alle Anwesenden bitten,
diese Informationen streng vertraulich zu behandeln«, fuhr Lehnert fort, »insbesondere,
weil es nicht
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