Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
bis
zu meiner Verabredung mit Kriminalrat Lehnert um 11 Uhr in seinem Büro, das hier
um die Ecke in den Bauten des ehemaligen Gauforums lag. Offensichtlich gab es eine
Wende in meinem Fall, da es nun als wahrscheinlich betrachtet wurde, dass die Senfgläser
mit den Fingerabdrücken aus dem Einbruch in meine Wohnung stammten. Ich war erstaunt
gewesen, als ich gestern gehört hatte, dass Hanna auch festgenommen worden war.
Meine Gefühle schwankten zwischen Interesse und Sorge, aber als mein Zug dann endlich
in Weimar eingefahren war, war mir doch klar, dass ich mein eigenes Schicksal in
die Hand nehmen musste und nicht das von Hanna. Wirklich überrascht war ich von
der Neuigkeit bezüglich der beiden Gläser. Hanna hatte uns direkt nach dem Einbruch
zwei schöne Zahnputzbecher gekauft, endlich mal etwas Ordentliches im Bad, nicht
immer diese Behelfslösung mit den Senfgläsern. So waren die Gläser vollkommen aus
meinem Gesichtskreis verschwunden, und da sie keinen Wert darstellten, wäre ich
nie auf die Idee gekommen, dass sie gestohlen worden waren. Nun wurden sie möglicherweise
zum Kernpunkt des gesamten Einbruchs. Und – für mich selbst war klar: Ich hatte
Fedor Balow nicht umgebracht.
Während ich den Rest meines Espressos
schlürfte, wunderte ich mich über meine eigenen Gedanken. Natürlich hatte ich ihn
nicht ermordet. Kann ein Mensch so beeinflusst werden, dass er beginnt, an der offensichtlichen,
selbst erlebten Wahrheit zu zweifeln?
Mein Blick blieb an einer Meldung
im Lokalteil hängen: ›Mord im Hof des Kirms-Krackow-Hauses – Junger Architekt aus
Weimar grausam erschlagen‹. So lautete die Überschrift des Artikels. Ich las weiter:
›Der 29-jährige Daniel Baumert starb durch einen Schlag ins Genick, der mit großer
Wucht und Präzision ausgeführt worden sein musste. Die Mordwaffe konnte bisher nicht
gefunden werden.‹
Was war nur los in Weimar? Der zweite
Mord innerhalb weniger Tage. Hatten beide Fälle etwas miteinander zu tun? Baumert
… so hieß doch der dampfplaudernde Briefträger, ob er mit dem Mordopfer verwandt
war? Das musste ich später den Kriminalrat fragen.
Ich rollte die Zeitung zusammen
und schlenderte weiter durch das Einkaufszentrum. Als ich gerade in einer Buchhandlung
die Krimis durchstöberte, sah ich sie draußen vor dem Schaufenster vorbeigehen.
Hanna. Ihre leuchtend blonden Haare, auf Kinnlänge geschnitten, die grüne Bluse,
die ich ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, blaue Jeans dazu. Ich sah sie
zum ersten Mal seit unserem Streit im Krankenhaus. Sofort ließ ich den talentierten
Mr Ripley fallen und schoss hinaus. Sie war bereits am Buchladen vorbeigegangen,
und neben ihr lief ein Mann, den ich von hinten nicht erkennen konnte. Er hatte
eine schlanke Figur, trug Jeans und ein kariertes Jackett. Ich folgte den beiden
vorsichtig. Sie steuerten die Rolltreppe an, das war gut, dann würden sie sich umdrehen
und sich mir zuwenden. Hinter einer Reklametafel versteckt, wartete ich, bis sie
die Rolltreppe betraten. Ich erkannte ihn sofort: Es war der Jogger vom Goetheturm.
Blinde Wut stieg in mir hoch. Wie
ein Besessener rannte ich den beiden hinterher. »Halt! Stehen bleiben! Haltet den
Dieb!«, schrie ich durch das Einkaufszentrum. Natürlich hielt keiner den Dieb fest,
es wusste ja niemand, wer eigentlich gemeint war. Aber zumindest machten mir alle
Platz. Der Kerl versuchte erst gar nicht wegzurennen. Das hätte ihm auch nichts
genützt, ich wäre in jedem Fall schneller gewesen, selbst mit Gipsarm. Ich wusste,
dass ich meine Wut zügeln musste. Aber es gelang mir nicht. Ich packte ihn am Jackett.
»Moment mal, Herr Wilmut!«, rief
er.
Aha, er kannte meinen Namen! Ich
holte aus.
»Hendrik!«
Hannas Schrei kam zu spät. Krachend
landete meine Faust in seinem Gesicht. Ich weiß nicht, wie die das im Fernsehen
machen, mir tat es jedenfalls höllisch weh. Möglicherweise mehr als dem anderen.
Das ärgerte mich am meisten. Er taumelte nach hinten, wurde von einem Passanten
gehalten. Eine Frau rief nach der Polizei. Der Kerl wischte sich das Blut von der
Nase und meinte, er sei selbst von der Polizei.
Ich erstarrte. Hanna beruhigte die
Menschen um uns herum, der Mann zog seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn mir
unter die Nase.
»Hauptkommissar Volk aus Frankfurt«,
sagte er leicht nuschelnd. Seine Oberlippe war in Sekunden auf das Dreifache angeschwollen.
Na wenigstens etwas, dachte ich.
»Ich bin ein Freund von Siggi, er
hat mich gebeten, auf Sie
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