Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
Kriminaltechniker hatten festgestellt, dass der Mörder die
Scheibe mit einem Gummisauger festgehalten und dann rundherum mit einem Glasschneider
herausgeschnitten hatte. So konnte er die Terrassentür entriegeln und nahezu geräuschlos
in die Wohnung gelangen. Profiarbeit, konstatierten sie.
»Ich habe telefoniert, wir sind
wieder zwei Schritte weiter«, sagte Siggi, »ich weiß aber noch nicht, wie ich das
einordnen soll.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Daniel Baumert war mehrere Jahre
mit einer Claudia Holzgrewe liiert. Sie wohnten zusammen in Frankfurt am Main. Vor
ein paar Monaten haben sie sich getrennt, er kam zurück nach Weimar. Letzte Woche
hat sich Claudia Holzgrewe das Leben genommen, sie wurde am Montag in Frankfurt
beerdigt.«
Meine Gedanken rotierten. »Am Montag?
Aha. Weißt du, auf welchem Friedhof?«
Siggi zog das Spanngummi von seinem
kleinen, schwarzen Notizbuch. »Um 15 Uhr auf einem … Waldfriedhof Oberrad.«
Eine Gänsehaut überzog meine Arme.
Mein Gehirnspeicher drohte überzulaufen. Ich musste jetzt abwarten, alles ordnen
und verarbeiten. »Gut, weiter?«
»Hans Gegenroth, er war fünf Jahre
an der Waldschlösschen-Schule, danach am Gutenberg-Gymnasium in Weimar. Wir haben
in mühsamer Kleinarbeit geprüft, wer seine Schüler waren und ob die irgendetwas
mit unseren Fällen zu tun haben. Sabine Grüner und Daniel Baumert sind nicht ans
Gymnasium gewechselt, aber Rico Grüner.«
»Okay, und was bedeutet das nun?«
»Bis jetzt noch gar nichts, keiner
am Gutenberg-Gymnasium kann sich erinnern, wie das Verhältnis der beiden war. Meininger
bleibt am Ball.«
»Schon wieder Meininger?«
»Na, bitte, Hendrik, ich muss mit
den Leuten arbeiten, die ich habe, du hast dir diesen Busche auch nicht ausgesucht.«
»Ja, nein. Oder vielleicht doch.«
»Wie bitte?«
»Ach nichts, ich muss wieder zu
Hanna.«
»Okay, ich fahre ins Büro, sag mir
sofort Bescheid, wenn ihr das Dokument in Jena finden solltet. Und lasst die Terrassentür
heute noch reparieren!«
Hanna saß wieder bei ihrer schlafenden Mutter.
»Sie wird kaum noch wach«, meinte
sie, »aber wenigstens atmet sie ruhiger.«
Ich nahm behutsam ihre Hand.
»Das Alter ist nicht schön«, sagte
Hanna, »aber trotzdem ruhig und beständig. In sich gekehrt. Auf das Wesentliche
konzentriert.«
»Goethe hat sich auch Gedanken über
das Alter gemacht.«
Sie lächelte. »Dem ist wohl zu allem
etwas eingefallen.«
»Das kann man wohl sagen, und zwar
in Worten, die uns bekannt vorkommen, obwohl wir sie noch nie gehört haben, die
klingen wie unsere eigenen Worte, obwohl wir sie nie ausgesprochen haben:
Das Alter ist ein höflich Mann:
Einmal übers andre klopft er
an,
Aber nun sagt niemand: Herein!
Und vor der Türe will er nicht
sein.
Da klinkt er auf, tritt ein
so schnell,
Und nun heißts, er sei ein
grober Gesell. «
Hanna sah mich erstaunt an. »Das stimmt. Mutter hat ihn nie hereinlassen
wollen, den Altersmann. Doch nun ist er mit Macht eingetreten.«
In Frau Büchlers Schlafzimmer stand
ein großer Korbsessel, ich ließ mich hineinfallen und schlief binnen Sekunden ein.
Hanna wachte über uns beide.
Als Dr. Gründlich eintraf, war es
bereits 8.30 Uhr. Langsam rappelte ich mich auf. Der Arzt sah mich immer noch mit
einem deutlichen Missbehagen an, sagte aber nichts. Mit seiner Patientin war er
sehr zufrieden. Das neue Medikament schien zu wirken. Er erklärte Hanna, dass er
heute nicht mehr kommen könne, weil er an einem Halbmarathon in Erfurt teilnahm.
Damit verschwand er.
Vor dem Haus ertönte ein dreifaches
Hupen. Benno. Ich gab Hanna einen Kuss, schnappte meine Jacke und lief hinaus. Es
war kühler geworden, dicke schwarze Wolken zogen vorüber. Benno drehte vor dem ehemaligen
Haus meiner Großeltern, um in Richtung Stadtmitte zurückzufahren. Ich vermied den
Anblick dieses vertrauten Hauses, denn er machte mich traurig. Als Großmutter Ende
der 70er-Jahre nach Großvaters Tod zu uns in den Westen kam, schenkte sie das Haus
ihrem Bruder. Er hatte nichts Besseres zu tun, als es zu verkaufen. Darf man ein
Geschenk verkaufen? Ich weiß es nicht. Das Schlimmste jedoch war, dass ich erst
davon erfuhr, als es schon zu spät war. Somit hatte ich keine Chance, das Haus für
unsere Familie zu retten, besser gesagt: für mich zu retten. Dieses Haus, in dem
ich fast alle meine Sommerferien verbracht hatte, in dem ich zwischen Himbeeren
und Stachelbeeren Jugendträume von Indianern, Piraten und bildschönen Mädchen
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