Goetheruh
ruderte mit den Armen, als wollte er zeigen, dass diese Welt voll von undefinierbaren Subjekten sei.
Ich schüttelte konsterniert den Kopf.
Siggi klopfte mir auf die Schulter. »Wir tun, was wir können.«
Daran hatte ich keinen Zweifel. »Was Neues von Ella?«
Siggi zog die Mundwinkel hoch und meinte: »Allerdings, da gibt’s einiges. Der Großvater von Jens Gensing saß im Zuchthaus, weil er entartete Kunst und Literatur gesammelt und verbreitet hatte. Du kennst das ja, in jedem totalitären Staat gilt irgendeine Kunstrichtung als entartet. Allerdings muss er seinen Standpunkt ziemlich rigoros vertreten haben, manche haben ihn als ›sehr seltsam‹ bis ›ausgeflippt‹ bezeichnet. Die meisten haben nicht verstanden, weshalb er für solche Bagatellen eine Verhaftung riskiert hatte. Da gab es natürlich wichtigere Dinge in der DDR, für die sich dieses Risiko gelohnt hätte. Tja, so war er eben.«
»Ich verstehe. Klavierlehrerin?«
»Keine Anzeige bei den ›Thüringer Nachrichten‹, nichts zu finden. Ella hat eine Freundin dort im Archiv, Susi, sehr verlässlich.«
»Wie ist Blume denn ins Goethehaus hineingekommen?«, fragte ich.
»Den Zugang zum Nebenhaus erhielt er dank Thomas Reim, Blume ist sein Onkel, das haben wir bereits überprüft. Reim hat ihm einen Nachschlüssel verschafft. Ins Goethehaus kam er angeblich mit einem alten Schlüssel, den er in einer Baugrube im Ilmpark gefunden hat – muss wohl fast 200 Jahre alt sein. Die Gravur JWG hat ihn auf die Spur ins Goethehaus gebracht. Den Rest hat er mit handwerklichem Geschick erledigt, er sagt, er sei ein guter Heimwerker, hat viel zu Hause gebastelt. Wie er auf die Zuordnung des Schlüssels genau zu dieser Kellertür kam, ist weiter unklar, aber das kriegen wir mit Sicherheit heraus!«
»Ein 200 Jahre alter Schlüssel, finden Sie das glaubhaft?«, fragte Hanna skeptisch.
»In diesem Fall halte ich inzwischen alles für möglich«, meinte Siggi lakonisch.
Das war’s dann wohl, dachte ich. »Kann ich noch irgendetwas tun?«
»Ich glaube nicht, Hendrik«, antwortete Siggi, »es sei denn, dir fällt etwas ein, das uns den geraubten Gegenständen näherbringt.« Ich schüttelte den Kopf. »Oder du hast eine Idee zum Erlkönig. Ansonsten – vielen Dank für deine Hilfe!«
»Was ist mit dem Erlkönig?«, erkundigte sich Hanna.
Ich berichtete ihr kurz von der E-Mail.
Gerade als wir gehen wollten, kam Benno auf mich zu. Er sah müde aus. »Ich bin auch sehr in Sorge, die Zeit wird nun langsam knapp bis zum Besuch der Kommission. Trotzdem, auch ich danke dir sehr für deine Unterstützung. Immerhin haben wir den Kerl hinter Schloss und Riegel!«
Ich nickte ihm zu und verließ mit Hanna den Raum.
»Von Cindy gibt’s auch noch nichts Neues!«, rief Siggi uns hinterher.
»Was ist denn mit Cindy?«, fragte Hanna besorgt, als wir bereits draußen auf dem Flur standen.
Ich nahm zärtlich ihre Hand. »Hanna … Cindy ist verschwunden, schon seit drei Tagen. Wir lassen sie überall suchen.«
Ihre sonst so strahlend blauen Augen wurden dunkel und ängstlich. »Was heißt das, Hendrik?«
Ich nahm sie in die Arme. »Ich weiß es nicht!«, sagte ich leise.
Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Ich versuchte, sie vorsichtig wegzustreichen und zog Hanna fest an mich.
Alles hat seine Zeit: Freude und Traurigkeit, Abstand und Nähe, Erwartung und Erfüllung, Leben und Tod. Doch ich hätte nie damit gerechnet, dass wir uns zum ersten Mal auf dem Flur eines Polizeipräsidiums küssen würden. Und ich hätte auch nicht damit gerechnet, dass dabei zuerst Göschke, dann Hermann und später Benno und Siggi diskret an uns vorbeigehen würden. Doch wir bemerkten niemanden. Dieser fast öffentliche Kuss fand für uns in unserer eigenen, abgeschlossenen Welt statt, in einer schweigsamen, warmen Hanna-Hendrik-Welt. Erst viel später, als die anderen längst wieder in ihren Büros saßen, verließen wir Hand in Hand das Präsidium.
Ohne ein Wort zu sagen, liefen wir in die Innenstadt, direkt in die Geleitstraße zu John. Er freute sich sehr, uns zu sehen. Hanna umarmte ihn und sprach ihm Mut zu. John hatte inzwischen herausgefunden, dass Cindy am Dienstag um 11.20 Uhr in einer Drogerie in der Schillerstraße einkaufen war, er hatte den Kassenbon entdeckt. In der Wohnung gab es keine Hinweise auf eine Abreise, ihre Schminksachen, ihre Zahnbürste und all ihre Kleidung waren noch da. Hanna meinte, wir sollten die Nachbarn befragen, doch ich wusste, dass die
Weitere Kostenlose Bücher