Goetheruh
auf halber Höhe roch es nach alkoholischer Gärung, wie zu unserer Jugend. Der Sender oben auf dem Berg war auch noch da, allerdings nicht mehr unter sozialistischer Führung, sondern unter Leitung des MDR. Dort, wo rechts hinter dem Sender die Scharnhorststraße abzweigte, stand das Haus ihrer Eltern. Es sah gut aus, soweit ich es im Dunkeln erkennen konnte. Erneut zog mich eine unsagbare Sehnsucht zum Haus meiner Großeltern. Ein Onkel hatte es verkauft, nachdem Großvater nach langer Alzheimerkrankheit gestorben war und Großmutter zu uns in den Westen kam. Ich war damals stinksauer. Für den Großonkel war das Haus zu DDR-Zeiten eine Belastung, heute wäre es mein ganzer Stolz. Ich ging nicht weiter, um es nicht sehen zu müssen.
Ich gab Hanna die Hand und strich mit der anderen vorsichtig über die ihrige. »Danke für deine Hilfe«, sagte ich leise. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte eine gewisse ›Na, so viel war’s doch nicht‹-Stimmung wider, aber sie ging nicht weiter darauf ein.
»Übrigens Hendrik, du hast vorhin von unserem Verhältnis gesprochen, das du nicht belasten wolltest, was meintest du damit?«
Ich sah sie überrascht an. »Ungefähr das Gleiche wie du mit dem Wort ›emotional‹ in dem Satz: Bevor ich mich in eine Sache emotional vertiefe.«
Ihr Lächeln leuchtete in der Dunkelheit. Als sie die Treppe hochging, drehte sie sich um und sagte: »Du könntest recht haben mit deiner Macht-Theorie. Aber was will er wohl mit dieser Macht anfangen?«
Ratlos hob ich die Arme: »Ich weiß es nicht – und genau das macht mich so nervös!«
3. Erinnerung
A
ls ich wieder einmal kurz vor dem Erwachen zwischen Traum und Wirklichkeit hin- und hertaumelte, meinte ich, die Vögel singen zu hören. Vor mir erschien das Bild meines Philosophielehrers, der zu Beginn jeder Schulstunde die Frage stellte, ob wir alle Menschen seien und manchmal träumten, fliegen zu können, oder Vögel, die träumten, ab und zu Menschen zu sein. Irgendwann, es schien Stunden später, meldete sich ein klopfender Kopfschmerz hinter meinem rechten Auge. Dort, wo er sich immer meldet. Ich war sicher, ein Mensch zu sein. Wobei ich keine Ahnung hatte, ob Vögel auch Kopfschmerzen haben können.
Ich sah auf den Wecker: halb fünf. Draußen wurde es bereits hell. Ich stand auf, um zwei Schmerztabletten zu nehmen und beschloss, trotz der frühen Stunde mit der Textanalyse zu beginnen. Recht untypisch für mich. Aber ungewöhnliche Ereignisse erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Nach Dusche, Kaffee und einem Joghurt setzte ich mich an den Schreibtisch. Die Kopfschmerzen hatten sich vorübergehend zurückgezogen, harrten aber weiterhin in einer Lauerstellung. Dort, wo sie immer lauern.
Am Anrufbeantworter blinkte das rote Licht. Es war Cindy, die gestern Abend angerufen hatte und fragte, wie es mir beim Literaturkreis gefallen habe. Ich solle mich doch mal melden, Telefonnummer … klick, Ende. Ich freute mich und nahm mir vor, sie später anzurufen.
Ich öffnete das große Dachfenster, die kühle Morgenluft strömte herein, sie gab mir Kraft. Zunächst schrieb ich alles auf, was ich Hanna gestern Abend zu den Texten berichtet hatte und fügte an, dass dies eine vorläufige Analyse darstellte, an der im Laufe der nächsten Tage weiter intensiv gearbeitet werden müsse. Dann kam mir die Idee, eine vorläufige Zusammenstellung zur Identifikation des Täters zu erstellen:
›Geschlecht: unbekannt
Körperliche Merkmale: unbekannt
Alter: 16-30 Jahre.
Der Täter verfügt über ausführliche Kenntnisse zu Goethes Leben und Werken, muss also über ein gewisses Bildungsniveau verfügen, daher Mindestalter 16. Er versteckt sich im Internet-Café zwischen jungen Leuten, daher Maximalalter 30.
Bildungsstand: hoch, wahrscheinlich Abitur.
Der Täter verfügt über ausführliche Kenntnisse zu Goethes Leben und Werken, die man nur mit einem guten Grundwissen in Deutsch und Literatur erwerben kann.
Sonstige Fähigkeiten: handwerkliches Geschick, wahrscheinlich Übung im Umgang mit Metall.‹
Ich ging meine Aufzeichnungen erneut durch, korrigierte, ergänzte, kürzte. So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Es war kurz nach neun, als ich zum Telefon griff. Die Sekretärin stellte mich sofort durch.
»Benno, die vorläufige Textanalyse ist fertig.«
»Sehr gut, danke. Ich schlage vor, du fährst zu Siggi, also zu Hauptkommissar Dorst und besprichst alles mit ihm.«
»In Ordnung, und was ist mit dir?«
»Ich habe im Moment
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