Goetheruh
rollten wir alle bisherigen Fälle erneut auf. Leider gelang es dem Würger, erneut zuzuschlagen, bevor wir ihn festnehmen konnten.«
Meine Achtung vor diesem Psychologen stieg, ohne dass ich bisher bereit war, das zuzugeben. »Und wie seid ihr ihm dann auf die Spur gekommen?«
»Wir fanden heraus, dass er immer sehr schnell den Tatort verließ und die Leiche in einem nahen Wald oder Gebüsch oberflächlich verscharrte, bevor er verschwand. Der Psychologe schloss daraus, dass der Täter möglichst rasch wieder in seine gewohnte Umgebung, also seine Wohnung oder sein Haus zurückkehren wollte, weil er sich dort sicher fühlte. Er nahm eine Zeit an, die der Täter sich selbst setzte, um in Sicherheit zu gelangen und wir berechneten daraus den maximalen Abstand seiner Wohnung vom Tatort. Wir zogen einen entsprechenden Kreis um den jeweiligen Fundort der Leiche. In der Schnittfläche der Kreise musste der Täter zu finden sein.«
»Aha.«
»In diesem Gebiet lebten 225 Männer, die altersmäßig infrage kamen. Dann ging alles sehr schnell. Wir gingen an die Öffentlichkeit und forderten all diese Männer auf, sich zur Überprüfung ihres Alibis zu melden. Am nächsten Tag ermordete der Täter die fünfte Frau. Zwei Tage später fassten wir ihn. Seine Ehefrau hatte von dem fünften Mord aus der Zeitung erfahren, und reimte sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Informationen zusammen, dass es ihr Mann gewesen sein musste.«
»Beachtlich!«
Er nickte.
»Nur eines ist mir nicht klar. Der Psychologe – so sagst du – ist von einer bestimmten Zeit ausgegangen, die der Täter sich selbst setzte, um nach dem Mord wieder in Sicherheit zu gelangen. Wo kam er auf diese Zeitspanne, war das ein Erfahrungswert oder eher eine zufällige Eingebung?« So schnell würde ich nicht aufgeben.
»Weder noch«, entgegnete Siggi ruhig, »diese Zeit hatte er von Viclas!«
»Viclas?«
»Das ist eine europäische Datenbank, das sogenannte ›Violence Crime Linkage Analysis System‹. Dort kann man nach allen Seriendelikten suchen, die in den betreffenden Ländern seit Bestehen von Viclas verübt wurden, kann Gemeinsamkeiten von bestimmten Delikten ermitteln und Tathergangsanalysen vergleichen. Man entschlüsselt sozusagen die Handschrift des Täters. Ich kenne den Leiter der Abteilung Operative Fallanalyse beim BKA und habe uns dadurch Zugang zu den Daten verschafft.«
»Nicht schlecht!« Ich überlegte einen Moment. »Können wir Viclas nicht auch für unseren Fall einsetzen?«
Siggi lächelte. »Kaum, in der Datenbank sind nur Kapitalverbrechen gespeichert. Wenn wir da mit einem simplen Diebstahl ankommen, lachen die sich kaputt!«
Wahrscheinlich hatte er recht.
»Aber etwas anderes können wir tun«, meinte Siggi und erhob sich.
»Ja?«
»Wir können von den wissenschaftlichen Ergebnissen, die uns Viclas geliefert hat, profitieren. Dazu müssen wir aber alle mit demjenigen zusammenarbeiten, der sich am besten damit auskennt. Und das ist unser Psychologe.«
»Verdammt, langsam hast du mich so weit!«, brummte ich.
»Gut, du hast einen Termin mit ihm zum Mittagessen, morgen um 13 Uhr im Kaminzimmer des ›Weißen Schwan‹, ich habe auf Bennos Namen reserviert.«
»Du bist der hinterhältigste Freund, den ich jemals hatte!«, rief ich verärgert und doch mit einem Lächeln auf den Lippen.
»Mit Betonung auf Freund !«, antwortete der Hauptkommissar, während er sich erhob, um fröhlich in Richtung Polizeipräsidium zu verschwinden.
*
Er liebte Frauen mit weiblicher Figur. Nicht unbedingt die Rubensfrauen, aber etwas zum Anfassen sollte schon vorhanden sein. Seit jeher hatte er auch einen Hang zu älteren, intelligenten Frauen, die jungen Hühner interessierten ihn nicht. Und sie mussten natürlich aussehen, durften keine starren Fratzen aus Schminke und Make-up haben, sich nicht mit Glitzerapplikationen oder teuren Handtäschchen schmücken. Christiane Vulpius war sein Ideal, einfach, selbstbewusst und mit einer naturgegebenen Ausstrahlung versehen. Die Ausstrahlung kommt von innen, in Koexistenz mit einem gesunden Selbstbewusstsein. Das wusste er, denn beides fehlte ihm.
Er lief mehrere Stunden durch den Ilmpark und überlegte, wie man das ändern könnte. Schließlich stand er auf der Schaukelbrücke und starrte in die Ilm. Die Baumkronen spiegelten sich im Wasser. Er erblickte sein eigenes Spiegelbild. Da plötzlich formte sich ein Gedanke in seinem Kopf. Eigentlich ein schlimmer Gedanke, doch er nahm Gestalt
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