Goetheruh
in einiger Entfernung und verschafften uns zunächst einen Überblick.
Zwei ältere flache Backsteinbauten von ungefähr zehn Meter Länge standen parallel auf dem Gelände. Quer dazu gab es eine Art Turm, ebenso aus Backstein, mit fünf bis sechs Stockwerken und einem Kran auf dem Dach. Rund um die drei Gebäude wucherte das Gras, seit Jahren hatte hier niemand mehr nach dem Rechten gesehen. Überall standen Schilder, die vor dem Betreten des Geländes warnten. ›Eltern haften für Ihre Kinder.‹ Der Treffpunkt lag blickgeschützt zwischen den beiden niedrigen Gebäuden im Hof. Siggi hängte sich Kamera und Fernglas um, und wir näherten uns vorsichtig dem Turmgebäude. Er hatte seine Waffe gezückt, denn man konnte nie wissen, ob die Hehler Wachposten aufgestellt hatten. Doch offensichtlich fühlten sie sich sicher – der Turm war menschenleer. Wir postierten uns im dritten Stock an einem zum Teil mit Brettern vernagelten Fenster. Hier hatten wir gute Deckung und konnten den Hof komplett überblicken. Mir war plötzlich kalt. War es die Aufregung? Oder zu wenig Kaffee? Siggi nahm das Fernglas und kontrollierte jeden Quadratmeter des Hofs. Sein Handy piepste leise. Bardo gab ein paar kurze Informationen durch, Siggi sagte kein Wort. Er nickte mir nur zu.
Kurz darauf sahen wir einen weißen Wagen in den Hof rollen. Vier Männer stiegen aus und stellten sich gelangweilt neben dem Auto auf. Einer öffnete den Kofferraum und begutachtete offensichtlich irgendwelche Gegenstände, die wir nicht erkennen konnten. Der Mann war blass und trug blaue Kleidung. Kurz darauf tauchte ein schwarzer Mercedes auf. Allein die Art, wie er majestätisch in den Hof rollte, ließ keinen Zweifel aufkommen: Das war der Boss. Ich kam mir vor wie in einem Mafia-Film. Zuerst stiegen seine beiden Gorillas aus. Dann folgte der Boss selbst. Er trug einen schwarzen Mantel und einen breitkrempigen Hut, sodass wir sein Gesicht nicht erkennen konnten. Er ließ sich irgendwelche Gegenstände in dem Kofferraum des anderen Wagens zeigen. Dann nahm er etwas heraus und hielt es ans Tageslicht. Es war ein Gemälde. Siggi gab mir das Fernglas und machte einige Fotos mit dem Teleobjektiv. Ob man das Gemälde darauf erkennen konnte, war fraglich. Langsam drehte der Boss sich um. Ich setzte das Fernglas an die Augen und versuchte, ihn zu fokussieren. Leider blendete mich die tief stehende Morgensonne. Doch dann trat der Mann in den Schatten. Ich drehte an meiner Fernglaseinstellung, um ihn scharf zu bekommen. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, er sähe mir direkt in die Augen. Ich musste diesem Blick standhalten. Das Gesicht kam mir bekannt vor, doch dauerte es einem Moment, bis ich ihn identifiziert hatte: Es war Hans Blume.
Erst viel später konnten wir rekonstruieren, was dann geschah. Blume hatte wohl durch Reflexionen der Sonne in meinem Fernglas bemerkt, dass ihn jemand beobachtete. Er gab seinen Männern Anweisung, den Turm zu umstellen. Derweil überlegte ich angestrengt, was Blume wohl mit der ganzen Sache zu tun haben könnte. Hatte er die Information an die ›Thüringer Nachrichten‹ doch nicht nur aus Rache gegenüber Benno weitergegeben, sondern aus geschäftlichen Gründen? Hatte er vielleicht sogar die Diebstähle begangen, nicht Jens? Aber auf die eine oder andere Art war Jens darin verstrickt, das war zu offensichtlich.
»Hendrik, verdammt, wir müssen abhauen!«
Siggi hatte bereits mehrmals gerufen, doch ich war geistig abwesend, während mein Körper regungslos an dem zertrümmerten Fenster verharrte. An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass es ernst war. Wir stürmten die Treppe hinunter. Da – ein Türenschlagen im Turm unter uns. Wir blieben schlagartig stehen und bewegten uns nicht. Ich war wieder anwesend – Geist und Körper bildeten eine Einheit. Leider stand diese Einheit auf der Treppe eines ausgestorbenen Fabrikgebäudes in Hinterthüringen und wartete auf drei Mafiakiller. Ich hätte in diesem Augenblick viel für einen ruhigen Blick aus meinem Dachfenster in der Hegelstraße und einen Espresso gegeben. Siggi gab mir einen Wink. Langsam und leise bewegten wir uns nach oben. Währenddessen zog Siggi sein Handy heraus und drückte auf der Tastatur herum. Wie? Wollte er jetzt telefonieren? Seine Stimme würde im Treppenhaus des Turms so laut hallen, dass Blumes Leute jedes Wort verstehen würden. Wir stiegen vorsichtig die Treppe empor. Siggi streckte sein Handy in die Luft, als wollte er sagen: Es hat
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