Goetheruh
geklappt! Er hatte aber mit niemandem gesprochen. Da begriff ich: SMS. Gute Idee!
Ich schaute mich um. Zwei Stockwerke über uns entdeckte ich einen Lichtschein, dort schien es eine Verbindung nach draußen zu geben. Aufs Dach? Warum nicht – immer noch besser mit dem Blick zum Himmel erschossen zu werden als mit dem Blick auf eine alte, verrostete Treppe. Ich schwitzte, meine Handflächen wurden feucht, ich konnte mich kaum am Geländer festhalten. Ich wusste, dass mir das Fernglas jetzt auf keinen Fall aus der Hand rutschen durfte.
Jeder kennt diesen Effekt: Man hofft inständig, dass etwas Bestimmtes nicht passieren möge, und dann passiert es doch. Das Fernglas glitt mir aus der Hand, fiel über das Geländer und knallte auf die Metallstufen ein Stockwerk unter uns. Einen solchen Lärm hatte ich noch nie in meinem Leben verspürt. Ich sage ausdrücklich ›verspürt‹, denn es schmerzte, nicht nur in den Ohren, sondern im ganzen Körper. Siggi begann zu rennen und ich spurtete hinterher. Es blieb uns nur eine Fluchtmöglichkeit: nach oben. Die Schritte der Verfolger hallten von unten durchs Gebäude. Eine schwere Metallluke führte zum Dach, Siggi und ich konnten sie nur unter größter Anstrengung gemeinsam öffnen. Ich schwebte irgendwo zwischen Todesangst und der Gier nach der Lösung des Falls. Die Dachluke war unsere Rettung. Oben angekommen, ließen wir sie krachend fallen. Wir sahen uns um. Wir mussten etwas sehr Schweres finden, um die Luke zu blockieren, denn diese menschlichen Bulldozer würden bestimmt keine so großen Probleme haben wie wir, die Luke anzuheben. Etwa zwei Meter entfernt lag ein Eisenträger – genau das Richtige. Nur, wie sollten wir den bewegen? Siggi fand zwei kleinere Eisenstangen, die wir als Hebel einsetzen konnten. Es gelang uns, den Eisenträger um die eigene Achse zu drehen, zweimal, dreimal. Stück für Stück kamen wir der Luke näher. Etwa einen halben Meter vor dem Ziel hörten wir Blumes Leute kommen.
»Stell dich auf die Luke!«, schrie Siggi, während er weiter an dem Eisenträger arbeitete. Ich sprang hinüber. Die Metallplatte begann unter mir zu wackeln. Sie versuchten, sie von unten hochzudrücken. Ich wünschte mir, in den letzten Tagen etwas mehr gegessen zu haben. Immerhin wog ich gut 80 kg, doch im Moment kam ich mir vor wie ein Fliegengewicht. Die Platte hob sich ein paar Zentimeter, ich konnte es nicht verhindern. Siggi schuftete wie ein Berserker. Es fehlten immer noch zehn Zentimeter.
»Beeil dich!«, stieß ich hervor.
In diesem Moment klingelte Siggis Handy. Zu meinem größten Entsetzen fingerte er es aus der Jackentasche.
»Bist du verrückt?«, brüllte ich.
Siggi steckte das Handy in die Brusttasche und machte weiter. Eine Hand kam durch die Lücke und griff nach dem Rand der Metallplatte. Das war meine Chance. Ich stieß einen tierischen Schrei aus, sprang hoch und ließ 80 kg Lebendgewicht auf dem Handrücken von Blumes Gorilla landen. Ein zweiter tierischer Schrei folgte, diesmal von dem Handrückenbesitzer. Im gleichen Moment kippte Siggi den Eisenträger auf die Luke. Der Gorilla hatte keine Chance mehr, seine Hand zurückzuziehen. Knochen splitterten und hellrotes Blut spritzte auf das Dach. Der Schrei ging in ein Stöhnen über, der Mann hatte wohl das Bewusstsein verloren. Blanke Knochen standen aus der Hand hervor. Ich wandte mich ab. Unwillkürlich musste ich würgen und wusste sofort, dass ich es nicht aufhalten konnte. Auf eine Art war ich sogar froh, dass mein Körper dermaßen reagierte. Das half, den gesamten Frust, die Enttäuschung und meinen Ekel loszuwerden. Ich lief schnell zu einer alten, dreckigen Wassertonne, um mich zu übergeben. Alles kam aus mir heraus, selbst der Ärger über mein eigenes Verhalten Hanna gegenüber und die Abscheu vor Hans Blume – einfach alles! Ich kann mich nicht erinnern, jemals mein gesamtes Innenleben derart nach außen gestülpt zu haben. Gelbe Galle und Reste von Nordhäuser Doppelkorn mischten sich in meinem Mund zu einem widerlichen Geschmack.
Siggi telefonierte währenddessen in aller Seelenruhe mit Kommissar Hermann.
»Sie sind bereits unten vor dem Turm«, rief er mir zu, als er das Gespräch beendet hatte. Ich wunderte mich zwar, wie sie so schnell hierher gekommen waren, hatte aber genug mit mir selbst zu tun.
Durch einen Nebel von Übelkeit hörte ich wildes Geschrei, Drohungen, Flüche. Und zwei Schüsse. Dann war Stille.
»Es ist vorbei, Hendrik!«, sagte Siggi. Jetzt wusste
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