Götter der Nacht
gerade noch ein.
Der Affendompteur warf ihm einen schiefen Blick zu, als hätte er ihn nach dem Namen seiner Mütze gefragt.
»Miffkerl!«
So kam es, dass die Erben, nachdem sie die Katze Frosch in Romin verloren hatten, in Dessin ein weibliches Mausäffchen namens Miff zu sich nahmen.
Die Vorstellung ging bald zu Ende, und so konnten die Erben zu Grigán und Lana zurückkehren und die arme Miff verarzten. Rey war versucht, sich noch ein wenig in der Stadt herumzutreiben, um dem einen oder anderen Wirtshaus einen Besuch abzustatten, aber dann schloss er sich doch den anderen an - nachdem Cavale einen guten Tropfen in seinem Gepäck erwähnt hatte.
Natürlich fanden sie Grigán wachsam wie eh und je auf seinem Posten vor. Der Krieger sah mit Erleichterung,
dass sie alle sicher und unversehrt ins Lager zurückgekehrt waren. Obwohl ihm Corenn den Zwischenfall mit dem Mausäffchen so harmlos wie möglich schilderte, wurde er wütend und beschimpfte sowohl Tonk als auch Bowbaq heftig. Der Riese ließ die Strafpredigt kleinlaut über sich ergehen und sah ihn so schuldbewusst an, dass sich Grigán schnell wieder beruhigte. So schlimm war die Sache nun auch wieder nicht.
Um mögliche Rachegelüste des Affendompteurs zu unterbinden und andere Angriffe zu verhindern, schlug der Krieger vor, eine Nachtwache vor den Wagen zu postieren. Er selbst würde die erste Schicht übernehmen. Wie üblich wollte er nur die Männer mit dieser Aufgabe betrauen, doch diesmal machte er eine Ausnahme, denn Léti bestand darauf, ebenfalls in die Pflicht genommen zu werden. Nachdem das geregelt war, ging ein jeder seiner Wege: Man ging zu Bett, zog mit seinem Krummschwert um die Wagen, kümmerte sich um einen verletzten Affen oder kostete von einem wunderbar klaren Lubilienschnaps.
Léti und Corenn fanden Lana im Wagen der Frauen. Die Priesterin war über dem Buch der Weisen eingeschlummert, und neben ihr lag die Übersetzung des Gedichts aus dem Tiefen Turm. Lana hatte fast den ganzen Abend damit verbracht, die beiden Schriften zu studieren. Als ihre Freundinnen hereinkamen, wachte sie auf.
»Geht es Euch nicht gut?«, fragte Corenn, erschrocken über Lanas graues, müdes Gesicht.
So gramvoll hatte sie die Priesterin noch nie gesehen. Das konnte nicht nur daran liegen, dass sie schlecht geträumt hatte.
Lana setzte sich auf und rieb sich das Gesicht, bevor sie antwortete. »Ich habe Angst, Corenn. Entsetzliche Angst
vor dem, was wir suchen. Angst, die Wahrheit nicht ertragen zu können. Werden wir so mutig sein wie unsere Vorfahren?«
»Wovon sprecht Ihr?«, fragte Corenn und setzte sich zu ihr. »Welche Wahrheit?«
»Ich weiß es genauso wenig wie Ihr. Aber ich ahne … Ich ahne, dass die Verantwortung schwer auf uns lasten wird. Glaubt Ihr nicht auch?«
Léti nickte heftig, und auch Corenn stimmte einen Augenblick später zu. Ihre Vorfahren hatten ihre Ämter, ihre Reichtümer, ja sogar ihr Leben verloren. Sie mussten fürwahr ein schreckliches Geheimnis entdeckt haben. Ein Geheimnis, das weit mehr umfasste als das Wissen um die Existenz des Jal’dara.
»Das Gedicht …«, begann Lana. »Ich habe es das Gedicht von Romerij genannt«, fügte sie einer plötzlichen Eingebung folgend hinzu. »Ist Euch auch schon aufgefallen, dass in keiner einzigen Religion von einem jungen Gott die Rede ist? Von Götterkindern? Dieses Gedicht ist eine Ausnahme. Auf einigen wenigen Zeilen stellt es einen Großteil unserer religiösen Überzeugungen infrage.«
»Ich würde das nicht ganz so ernst nehmen«, sagte Corenn. »Was ändert es schon, wenn die Götter zunächst den Körper eines Kindes annehmen? Ist Eurydis den Itharern nicht auch in Gestalt eines Mädchens erschienen?«
»Im Gegenteil, es ändert sogar sehr viel!«, widersprach Lana. »Im Gedicht heißt es: ›Arglos sind Menschen wie Götter‹. Arglose Götter! Ist Euch bewusst, was die Begegnung zwischen den Götterkindern und unseren Vorfahren für Folgen gehabt haben kann? Ist Euch bewusst, dass die Tragödie des vergangenen Jahrhunderts möglicherweise nie wieder gutgemacht werden kann? Dass sich das Jal’dara,
die Kinderstube der Götter, vielleicht für immer verändert hat?«
Corenn und Léti sahen sich entsetzt an. Lana hatte ihre Suche soeben in einen religiösen Zusammenhang gestellt, und damit sah alles nur noch düsterer aus.
Ihr Feind war nicht nur übermächtig. Vielleicht hatte er das größte Verbrechen begangen, das man sich überhaupt vorstellen konnte.
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