Götter der Nacht
Vielleicht hatte er den Zorn der Götter über die Menschheit gebracht - und das für alle Ewigkeit.
Früh am nächsten Morgen brachen die Gaukler und die Erben zur schwierigsten Etappe ihrer Reise auf: der Fahrt durch das Klamme Tal.
Der Landstrich lag zwischen den Nebelbergen und dem Gebirgszug der Brantacken, den natürlichen Grenzen des Königreichs Romin. Das Klamme Tal erstreckte sich bis in den Süden Arkariens und verband das Alte Land mit dem Reich des Nordens. In der eintönigen Sumpflandschaft wuchsen nur wenige Bäume, und es blies immerzu ein eiskalter Wind.
Außer ein paar zurückgezogen lebenden Einsiedlern oder Bauern, die ihre armseligen Höfe nicht verlassen wollten, lebte kaum jemand in dieser unwirtlichen Gegend. So herrschte dort weder Recht noch Gesetz, was eine dritte Sorte Bewohner anlockte: ruchlose Räuber, die für eine Handvoll Silbermünzen auch vor Mord nicht zurückschreckten.
Merbal von Jidée war der berüchtigtste gewesen. Die Räuber des Klammen Tals hatten einen so furchterregenden Ruf, dass Romin seinen wichtigsten Handelsweg hatte schließen müssen und nun von der florierenden Wirtschaft der Oberen Königreiche abgeschnitten war.
Zum Glück mussten die Erben nicht das ganze Tal durchqueren. Zu den Nebelbergen führte ein einigermaßen ungefährlicher Weg, der seit Jahrhunderten von lorelischen Kaufleuten benutzt wurde. Zwei Tage lang war nun besondere Wachsamkeit geboten, bevor sie das sichere Semilia erreichten.
Kaum hatten sie die Stadtmauern hinter sich gelassen, befanden sie sich in einer Ödnis, in der sie keiner Menschenseele mehr begegneten. Ihre Wagen rumpelten durch immer tiefere Pfützen. Aus der Straße wurde ein Trampelpfad, der schließlich streckenweise gar nicht mehr zu erkennen war. Damit die Fahrzeuge nicht im Morast stecken blieben, mussten sie immer wieder einen Tümpel umfahren, was sie viel Zeit kostete - sehr zum Ärger Grigáns, der zu Pferd keine Mühe hatte, die unwegsamen Stellen zu passieren.
»Wir sollten die Wagen hier stehen lassen und allein weiterreiten«, schlug er Corenn vor. »Wir verlieren viel zu viel Zeit.«
»Ohne die Gaukler müssen wir in Le Pont Wegezoll zahlen«, erinnerte sie ihn.
»Wir finden schon eine Lösung. Das wäre ja nicht das erste Mal.«
»Und ohne den Schutz, den die Wagen uns bieten, könnten wir in den Bergen erfrieren«, fügte Corenn hinzu. »Uns bleibt keine andere Wahl, als mit den Gauklern weiterzuziehen.«
Widerwillig lenkte Grigán ein. Manchmal dachte er noch wie früher, als er allein unterwegs gewesen war. Da er zwei Jahre in Arkarien verbracht hatte und weder Schnee noch kalte Nächte fürchtete, hätte er Semilia in weniger als zwei Tagen erreicht. Doch diese Mühsal konnte er den anderen nicht abverlangen.
Bald pfiff ihnen ein Wind um die Ohren, der sie bis in die Nebelberge begleiten würde. Er kam aus Norden, ein böiger, trockener, eiskalter Wind, in dem immer wieder Hagelkörner wirbelten.
»Der Wind …«, bemerkte Léti, die neben dem kleineren, den Frauen vorbehaltenen Wagen ritt. »Er klingt wie der Gesang der Geister in der Bibliothek.«
Lana und Corenn schwiegen, denn sie hatte das gleiche unheimliche Gefühl beschlichen. Die Priesterin zog sich rasch wärmer an, und die anderen folgten ihrem Beispiel.
Später durchquerten sie einen breiten Tümpel, der nirgends tiefer als zwei Fuß war. Grigán hatte auf eigene Faust eine Furt gesucht und gefunden, was dem Wagenzug einen Umweg von einem Dekant ersparte. Als sie sich ins Wasser vorgewagt hatten, war Nakapan noch skeptisch gewesen, aber nachdem sie am anderen Ende des morastigen Teichs angekommen waren, bedankte er sich überschwänglich.
»Ich hasse Gegenden, in denen es ständig regnet«, sagte Rey mit einem missmutigen Blick auf die Schlammpfützen, die an manchen Stellen gefroren waren. »Wenn man sich vorstellt, dass wir noch vor einer Dekade im Schönen Land waren!«
»Hier regnet es nie«, verbesserte ihn Grigán. »Das Wasser stammt von der Schneeschmelze in den Brantacken und den Nebelbergen. In fünf Monden wird dieser See hier mindestens fünf Fuß tief und dreimal so groß sein wie jetzt.«
Rey betrachtete die Einöde, die Wind und Wetter ausgesetzt war. Wie sollte irgendjemand hier leben können?
Der alte Anaël, mit dem sich die Erben angefreundet hatten, erzählte ihnen, wie er seinen treuen Merbal als Welpe in dieser Gegend gefunden hatte. Der kleine Wolf war von dem plötzlichen Anstieg des Wassers
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