Götter der Nacht
keinen Halt mehr machen.«
Seine Gefährten nickten traurig. Maz Achem war ihre einzige Hoffnung: ein hundert Jahre altes Tagebuch, das ihnen im schlimmsten Fall überhaupt nicht weiterhelfen würde.
Sombre träumte und träumte. Immer seltener musste er dafür schlafen. Wenn er seinen Geist nur ein wenig öffnete, bestürmten ihn Tausende von menschlichen Gedanken: Bilder von Krieg, Eroberung und Herrschaft. Und Bilder der Verehrung.
Dem Gott gelang es allmählich, seine Macht zu kontrollieren.
Anfangs waren die Gedanken der Sterblichen in seine Träume eingedrungen, hatten sich dort festgesetzt, ausgebreitet und sich in sein noch unberührtes Bewusstsein gefressen wie Parasiten. Vergeblich hatte Sombre gegen die Eindringlinge angekämpft und sich nach jener Zeit zurückgesehnt, als nur Saat ihn in seinen wirren Träumen besucht hatte. Als sie sich gemeinsam unter den Bergen des Jal’dara versteckt hatten.
Im Laufe der Zeit hatte Sombre gelernt, Kraft aus den Gebeten, Ängsten, Grausamkeiten und Träumen der Menschen zu schöpfen. Er hatte sich von ihnen genährt. So hatte er sein wahres Wesen gefunden: Er war der Bezwinger. Tief im Innern war er das schon immer gewesen. Doch erst die Sterblichen hatten es ihm enthüllt. Fortan war er ein Gott, der dem Sinn der Menschen entsprungen war.
Er wurde immer mächtiger. Stärker. Und wacher.
Da er mit zunehmender Leichtigkeit in die Gedanken der Menschen eindrang, erkannte er mittlerweile einige Gesichter wieder und konnte sich Namen merken. Emaz Chebree, seine Hohepriesterin. Gors’a’min, Saats Heerführer. Zamerine, der Stratege. Dyree, der Henker. Und dann war da noch ihr Verbündeter in den Unteren Königreichen, dessen Antlitz er nicht kannte, dessen Name aber häufig fiel.
All diese Menschen verneigten sich vor ihm und nannten ihn den jungen Dyarchen. Lange Zeit waren ihm ihre dunklen, verwirrenden, belanglosen Absichten unverständlich gewesen. Doch nun entwickelte Sombre ein eigenes Bewusstsein. Er begriff, was Ehrgeiz war. Er durchschaute Pläne. Er spürte seine Überlegenheit und verstand die Umstände, die ihn in den Rang eines Gottes erhoben. Der Unsterbliche, der bislang nur in Träumen existiert hatte, sah nun einer Zukunft aus Schlachten, Blutvergießen und Eroberungen entgegen, ein Weg, den ihm die Menschen vorgezeichnet hatten.
Er durchschaute Saats Absichten nun voll und ganz. Sie würden gemeinsam die Welt der Sterblichen erobern und sie ihrer Herrschaft unterwerfen. Der Neuen Ordnung. Für alle Ewigkeit.
Sombre war berauscht von dem Gedanken an die Macht, die ihm der Glaube der ganzen Menschheit verleihen würde,
wenn sie erst einmal versklavt wäre. Von der Vorstellung, wie er jeden Widerstand brechen würde.
Er war der Bezwinger.
Dank seines neuen Bewusstseins erinnerte sich Sombre nun auch an seine Vergangenheit. Das Jal’dara. Seine Brüder und Schwestern. Nol. Das Jal’karu. Und an böse Prophezeiungen.
Ihm kam die schmerzliche Begegnung mit Usuls Geist in den Sinn. Der Unsterbliche hatte nichts als Verachtung und Spott für seinen jüngsten Verwandten übrig gehabt. Usul war der Wissende. Was genau wusste er?
Die Undinen. Der Flüstersee. Sombre erinnerte sich an eine unumstößliche Wahrheit der finsteren Kreaturen aus den Untiefen des Karu.
Es würde ein Erzfeind kommen. Der Einzige, der den Bezwinger besiegen konnte.
Er wusste nicht, wann, ob, und schon gar nicht, wie er besiegt werden würde. Die Menschen waren lächerlich schwach. Und den anderen Göttern waren die Hände gebunden.
Doch eine unumstößliche Wahrheit war - wie der Name schon sagte - unumstößlich, und so musste sich Sombre für den Kampf gegen den Erzfeind wappnen. Den Einzigen, der auch nur den Hauch einer Chance hatte, ihn zu besiegen.
Mit unbändiger Freude bereitete er sich auf sein Kommen vor. Saat musste ihm nun keine Ratschläge mehr erteilen. Sombre war fast erwachsen und wusste genau, was auf dem Spiel stand. Eigenmächtig machte er sich auf die Suche nach dem Geist ihrer Feinde.
Er wurde zu einem Schatten und flog in Gedankenschnelle über Berge, Städte, Flüsse und Wälder hinweg. In
jedem Augenblick streifte er das Bewusstsein Tausender Sterblicher. Auf der Suche nach den Gedanken seiner Opfer durchquerte er Königreiche, zog Straßen entlang, lauschte, spionierte und schnüffelte herum.
Er kannte sie gut. Er hatte sie bereits mehrmals aufgesucht. Vielleicht war einer von ihnen der Erzfeind. Zwar glaubte Sombre das nicht,
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