Götter der Nacht
Reise unternahmen und in welcher Gefahr sie schwebten.
Lana versuchte, hinter den Masken der Passanten deren Augen auszumachen. Verbarg sich hinter einer von ihnen ein Mörder? Vielleicht sogar mehrere? Hatte man sie bereits erkannt? Folgte ihnen jemand?
»Irgendwie ist es mir hier zu still … Und das, obwohl so viele Leute auf der Straße sind«, sagte Rey und riss sie damit aus ihren Gedanken. »In Lorelia würden halb so viele Menschen doppelt so viel Lärm machen.«
»Der Glaube ist stumm«, rezitierte Lana und versuchte, ihre Angst zu vergessen. »Aber der Schein trügt, Reyan. Nach den Abendgebeten geht es in Ith sehr viel lebhafter zu.«
Kurz darauf standen sie vor der Werkstatt des Maskenbauers. Dieses Handwerk gab es nur in Itharien. Corenn und Rey gingen hinein, um für jeden eine schlichte itharische Maske zu kaufen. Das darauf angedeutete Gesicht war starr und geschlechtslos. Grigán beschwerte sich, weil die Maske seine Sicht einschränkte, und Bowbaq jammerte, dass seine viel zu klein sei.
»Bowbaq und ich sind ohnehin leicht zu erkennen«, brummte der Krieger und nahm die Maske wieder ab. »Und ich werde ganz bestimmt keine anderen Kleider anziehen.«
»Ich auch nicht«, sagte Léti sofort. Sie wollte ihre Kluft um nichts in der Welt ablegen.
Immerhin rang sich Grigán dazu durch, die Novizenkutte überzustreifen, die Rey den Züu gestohlen hatte, und Léti tat das Gleiche mit einem von Lanas Gewändern. Die Passanten würdigten die Fremden, die sich auf offener Straße umzogen, kaum eines Blickes, denn in Ith war man Einiges an Seltsamkeiten gewohnt.
Auf dem Weg ins eurydische Viertel sahen die Erben viele erstaunliche Dinge, und zwischen all den Fremden fielen sie nicht weiter auf. Lana zeigte ihnen die Sänger des berühmten lureeischen Gesangs, einige Barmherzige Geschwister aus Thébe, eine Herberge, die von »Priesterinnen« der Göttin Dona geführt wurde, und die Brücke über den Alt, auf der einstmals ein Wächter auf die Ankunft des Schiffes mit den goronischen Toten gewartet hatte.
Als sie an einer Straßenecke auf einen Erhängten stießen, schrie Lana auf und wandte die Augen ab. Der Mann musste Selbstmord begangen haben, doch das machte seinen Anblick nicht weniger grauenvoll.
»Er ist seit mindestens zwei Tagen tot«, sagte Grigán. »Merkwürdige Stadt, in der man Erhängte zwei Tage an ihrem Strang verwesen lässt.«
»Holt ihn herunter, Grigán, ich bitte Euch«, sagte Corenn. Er vergewisserte sich mit einem raschen Blick, dass sie allein waren, und trennte das Seil dann mit einem einzigen Schlag seines Krummschwerts durch. Die Leiche fiel zu Boden, und Grigán führte die Gefährten von ihr fort.
»Der Mann war ein Brassiss«, erklärte Lana. »Die Brassiss glauben an ein Leben nach dem Tod, bei dem ihr Körper ewig in seiner gegenwärtigen Gestalt bewahrt wird. Deshalb begehen viele Selbstmord, wenn sie älter werden.«
»Und die Wachen sehen tatenlos zu?«, wunderte sich Yan. »Warum haben sie ihn hängen lassen?«
»Vermutlich haben sie ihn noch nicht entdeckt«, sagte die Maz. »Die Soldaten haben mit den Valiponden, den Kl’uriern und den Anhängern Yoos’ alle Hände voll zu tun. Sie sind einfach zu wenige. Der Tempel hat zweihundert Männer in seinen Diensten, welche die Heilige Stadt bewachen, und der König noch ein paar mehr, vielleicht dreihundert. Doch sie sind über das gesamte Königreich verteilt.«
»Fünfhundert Mann für ein ganzes Königreich«, sagte Grigán kopfschüttelnd. »Mit meinen Reitern hätte ich diese Stadt in …« Er brach ab, und sein Gesicht verfinsterte sich. Der Gedanke an die ramgrithische Reiterschar weckte traurige Erinnerungen.
»Goran schützt uns«, sagte Lana. »Wenn jemand die Heilige Stadt angreifen will, muss er zuerst das Große Kaiserreich besiegen. Und das wird so schnell niemand versuchen.« Sie hoffte, dass sie sich damit nicht irrte.
Emaz Drékin fühlte sich alt und müde. Sein Glaube an Eurydis war so unerschütterlich wie eh und je, doch er hatte nicht mehr dieselbe Freude am Gottesdienst wie noch in jungen Jahren. Als er eines der höchsten Ämter der eurydischen Religion übernommen hatte, lernte er die weltlichen Belange des Großen Tempels kennen: politische, wirtschaftliche oder ganz und gar menschliche.
Auch das hatte ihn früher zu begeistern vermocht. Mittlerweile war ihm nur der bittere Nachgeschmack von Machtspielen und Intrigen geblieben. Ihm Grunde kam er sich eher wie ein
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