Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Götter der Nacht

Titel: Götter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Grimbert
Vom Netzwerk:
das Tagebuch vor Drékin finden«, sagte sie, nun endlich voller Entschlossenheit. »Grigán, würdet Ihr bitte vorangehen? Meine Schritte und die Euren sind von nun an verbunden.«
    Der Krieger gehorchte schweigend. Er empfand Mitgefühl für die Maz, die von ihrem Lehrer bitter enttäuscht worden war. Doch sie hatten schon genug Zeit verloren. Vielleicht war es längst zu spät.

    Drékin trug nichts als eine dünne Robe und offene Sandalen, und der kalte, böige Nordwind fuhr ihm in die Glieder. Doch der Emaz hatte anderes im Sinn als sein körperliches Wohlbefinden. Seit einer Weile schon hatte er das Gefühl, verfolgt zu werden, und ein- oder zweimal glaubte er Schatten hinter sich herhuschen zu sehen.
    Er konnte nicht sagen, ob man ihm schon von Anfang an gefolgt war, oder erst, seit er die Heilige Stadt betreten hatte. Die beiden Tempelwächter, die am Tor der Toleranz postiert waren, hätten selbstverständlich jeden Verfolger verhaftet. Doch die Wächter pflegten ihn sonst immer auf seinen Rundgängen durch die Heilige Stadt zu begleiten, weil sie es als Ehre empfanden, einem Emaz zu helfen. Warum hatten sie nicht wie üblich um Ablösung gebeten und waren ihm nachgegangen? Warum war ihr Gespräch plötzlich verstummt, während er sich entfernte?
    Drékin hatte nicht gewagt, sich umzusehen. Niemand folgte ihm. Die Schatten in seinem Rücken existierten nicht. Die Wachen standen immer noch auf ihrem Posten und waren quicklebendig. Seine Fantasie spielte ihm nur einen Streich.
    Allein das Buch zählte. Dieses verfluchte Tagebuch, auf das er nur zufällig gestoßen war. Er hatte es schon tausendmal zerstören wollen und es doch nie gewagt.
    Heute würde er es tun. Was scherte ihn das Wissen und die Toleranz, wenn diese beiden Tugenden den Frieden störten? Wie konnte die eurydische Lehre etwas verteidigen, das ihre Grundfesten erschütterte?
    Mit einem Mal begann Drékin zu rennen, was er seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte. Er rannte, um den Schatten zu entkommen, dem Tod und seiner Verantwortung als Hohepriester. Er durfte Lana dies nicht aufbürden.

    Niemand sollte eine solche Last tragen müssen, und die Geheimnisse des Tagebuchs durften niemals in die falschen Hände geraten. Niemals.
    Im Laufschritt durchquerte er den Obstgarten der theologischen Akademie. Er lief am Tempel der Aliandra vorbei, umrundete die Steine der Inschriften, passierte die Schatzkammer und gelangte schließlich zum Haus des alten Archivs.
    Er blieb kurz stehen, um Luft zu schöpfen. Es waren keine Schatten mehr zu sehen, aber nun war er sicher, dass sie keine Einbildung gewesen waren. Das Echo seiner Schritte hätte niemals einen solchen Lärm verursacht. Ihm waren die ganze Zeit mehrere Menschen gefolgt.
    Doch es war niemand in Sicht.
    Von Panik ergriffen hastete Drékin auf die schmale Brücke, die zum Gebäude hinüberführte, und legte die zwanzig Schritte zur Tür zurück. Mit fliegenden Fingern schloss er auf und warf dabei immer wieder ängstliche Blicke über die Schulter. Endlich betrat er das Archiv und verschloss die Tür eilig von innen.
    Doch er gönnte sich keine Atempause. Keuchend und mit rasendem Herzen entzündete er eine Kerze und stieg eine breite Steintreppe hinab, auf der sich der Staub und Dreck von Jahrzehnten abgesetzt hatte. Unten angekommen, durchquerte er einen großen leeren Saal, hastete einen Korridor entlang und bog in einen weiteren Gang.
    Die Schatten schienen ihm immer noch im Nacken zu sitzen. Dem alten Priester kam der Gedanke, dass sie ihm vielleicht jedes Mal gefolgt waren - bei jedem seiner Versuche, das Tagebuch zu zerstören. Doch er war stets an seiner Feigheit gescheitert.

    »Diesmal bringe ich es zu Ende!«, rief er in die Dunkelheit hinein.
    Seine eigene Stimme, die in den leeren Sälen widerhallte, machte ihm Angst. Mit zitternden Händen öffnete er die letzte Tür zum geheimen Archiv. Dort wurden die gefährlichen Schriften aufbewahrt, die aus der Feder von Priestern stammten und gegen die eurydische Moral verstießen.
    Drékin huschte hinter eine Säule, ging in die Hocke und betätigte den versteckten Mechanismus einer Falltür. Ihm graute vor dem Keller, doch er hatte keine Wahl. An die Leiter geklammert, stieg er Sprosse um Sprosse hinab und schwitzte vor Anstrengung und Angst. Er musste die Bücher und Pergamente, die sich auf dem Boden stapelten, nicht lang durchsuchen: Das Tagebuch war immer noch an seinem Platz. Dort, wo er es beim letzten Mal zurückgelassen

Weitere Kostenlose Bücher