Götterdämmerung (German Edition)
Na, endlich. Nun drehte Simon sich doch um. Hinter ihm stand nur eine Frau mit Kopfhörern. Erleichtert sprang er in den nächsten Wagen und setzte sich nah an die Tür. Das mulmige Gefühl war jedoch nicht verschwunden. Es kehrte zurück, als die Bahn anfuhr. Einen Moment lang überlegte Simon sogar, den Wagen zu wechseln, weil er den Schatten eines Passagiers für einen Roboter hielt, dann beherrschte er sich jedoch und wechselte den Platz, sodass er den Wagen besser im Blick hatte.
Auf der Bank gegenüber schlief ein Mann mit teurem Anzug und Aktentasche. Die Tasche hatte er sich unter den Kopf gelegt, die Beine über den Rand der Sitze hin ausgestreckt. Sicher hatte er seine Station verpasst. Er sah aus, als würde er nicht hierher gehören.
Wäre Simon nicht von seiner Angst gefangen gewesen, hätte er genauer hingesehen, hätte er möglicherweise bemerkt, dass dieser Mann nie wieder aufwachen würde.
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Franco saß auf einem wackeligen Plastikstuhl vor der halb geöffneten Balkontür. Den ganzen Tag und die halbe vergangene Nacht war er unterwegs gewesen und hatte sich die Füße wund gelaufen. Jetzt reichte es. Er brauchte dringend eine Pause.
Seine Anstrengungen waren ergebnislos geblieben. Der Junge hatte sich verkrochen. Wahrscheinlich war er genauso vor dem Sturm geflüchtet wie jeder normale Mensch. Nur Verrückte liefen bei so einem Wetter draußen herum. Verrückte wie er. Beinahe wäre er von einem armdicken Ast erschlagen worden.
Franco biss ein Stück Salami-Pizza ab, die er auf dem Schoß hielt. Er hatte sie im Dunkeln aufgewärmt, um niemanden auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Vorsichtshalber. Die Maschinen waren zwar bisher nicht wieder aufgetaucht – und nichts deutete darauf hin, dass sie hier gewesen waren – aber sie konnten jederzeit kommen. Vielleicht hatte er lediglich nicht oberste Priorität.
Um fluchtbereit zu sein, war Franco vollständig angezogen: Er trug Straßenschuhe, Jacke, sogar seinen Schal. Es gab eine Feuerleiter, die vom Balkon aus in den Hinterhof führte. Falls er verdächtige Geräusche hörte, würde er sie benutzen. Und zwar pronto! Schnelligkeit war das einzige, was ihn vor den Killerrobotern retten konnte.
Auch die Wohnungstür war unverschlossen. Sie würde die Killerroboter ohnehin nicht lange aufhalten und sich als Falle erweisen, falls die Angreifer vom Balkon her kamen. Franco hatte alles einkalkuliert.
Er stellte den leeren Teller neben den Stuhl auf den Boden. Es war lausig kalt. Trotz der dicken Jacke zitterte er vor Kälte. Die angelehnte Tür schlug laut im Wind. Die Geräusche der Straße drangen wie akustischer Brei ins Zimmer. Franco rieb sich seine schmerzenden Knöchel. Er hatte sich krank gemeldet und einen kompletten Arbeitstag verbummelt. Wenn ihn jemand beobachtete, wie er auf der Straße herumlief, konnte er der Werkstatt Lebewohl sagen. Aber das war im Moment sein geringstes Problem. Er würde sich einen neuen Job suchen, wenn es sein musste. Die Organisation ging vor. Er durfte nicht aufgeben, egal wie lange die Suche nach dem Jungen dauern mochte. Ausdauer und Willensstärke zählten nicht unbedingt zu Francos herausragenden Eigenschaften, aber diesmal würde er seinen inneren Schweinehund besiegen.
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Obwohl seine Position unbequem war, fiel er sofort in einen unruhigen Schlaf. Im Traum rannte er hinter dem Jungen her, während orange glühende Killermaschinen sie verfolgten und die Straßen in Brand steckten.
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Tom erwachte in einem kleinen Zimmer. Eine Lampe spendete schwaches Licht. Es genügte, um zu erkennen, dass er allein war. Er lag in einem Bett. Rechts und links stießen seine Arme an das kühle Metall eines Gitters, das ihn wohl vor dem Herausfallen schützen sollte. An der Wand gegenüber befand sich ein großer Spiegel. Neben dem Bett stand ein Glas Wasser in einer Halterung. Links befanden sich medizinische Geräte und ein paar Bildschirme, die er jedoch nur zum Teil sehen konnte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er an Armen, Oberkörper und Kopf verkabelt war, aber er war zu müde, um sich darüber aufzuregen.
Tom schloss die Augen und schlief wieder ein. Nach ein paar Minuten blinzelte er, setzte sich mühsam auf und riss die Kabel von seinem Körper, was den technischen Geräten einen lauten Warnton entlockte. Er hatte furchtbare Kopfschmerzen. Ein dumpfes Hämmern, das sich vom Hinterkopf bis zu den Augenhöhlen ausbreitete und ihn zu betäuben
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