Goetterdaemmerung - Roman
er sich im Namen seiner Geliebten und schlug verzweifelt den Kopf gegen die Wand. Doch in der dritten Nacht, als ihm seine bewegte Einbildungskraft unaufhörlich dieselben Bilder vor Augen führte, stellte er sich von Neuem, mit einem Gefühl unbezwinglicher und unvergleichlicher Zärtlichkeit, das Glück vor, Giulia zu sehen; all seine heftigen Schmerzen des vorvorigen Abends schienen Otto nun nichts weiter als ein Traum. Jetzt hält er es nicht mehr aus: Er steht auf, kleidet sich an und nennt dem Kutscher den Namen der alten Rue du Puits-qui-parle, damals weit bekannter als jener der Rue Amyot, durch den man ihn ersetzt hat. Es ist kalt, Paris schläft, der Vollmond strahlt. Otto gab sich, während er jene unbewegliche goldene Scheibe betrachtete, so lebhaften und ungeduldigen Träumereien hin, dass er sich schon im Vorhinein im Besitz des ersehnten Glückes wähnte. Nun langt er vor einer Mauer an; er klingelt, klopft, ruft, immer drängender, bis endlich Laury kommt, um ihm zu öffnen. Er durchquert ein Stückchen Garten, eilt eine Holztreppe hinauf, Giulia, aus dem Schlaf gerissen, erscheint … Leidenschaftlich werfen sie sich einander in die Arme.
Ach! Glück und nochmals Glück des Liebens! Dieses alles erneuernde Lebenselixir! Einmal vereint mit dieser Quelle, ergießt sich das Herz von dort über die ganze Welt wie ein Sturzbach in seinen Lauf! Kaum hatten sich die Liebenden wiedergefunden, wurden ihnen die Augen geöffnet, wurde ihr Wesen völlig verändert durch eine Art Verzauberung. Nie zuvor waren ihnen die Farben der Sonne so strahlend erschienen, nie der Himmel von so prachtvoller und fortwährender Heiterkeit erfüllt. Voller Hingabe ergötzten sie sich an einer Blume, einem Grashalm, einer Wolke, an unscheinbaren Gegenständen um sie her; in ihre unbedeutendsten Verrichtungen mischten sich außergewöhnliche Freude und Ungestüm; aus ihren Augen leuchtete ein Geist, der das gesamte Universum für sie belebte. Das ging so weit, dass ihnen dieses armselige und finstere, schlecht beleumundete, schlecht gepflasterte, schlecht gebaute Viertel im Schatten des Pantheon, mit Grashalmen zwischen den Pflastersteinen, mit Fensteröffnungen, in denen Lumpen trockneten, und die enge kleine, von baufälligen Häusern und alten Gartenmauern gesäumte Rue du Puits-qui-parle als die schönsten Orte erschienen, die die beiden je auf Erden gesehen hatten; und immer wenn sie von Weitem ihre niedrige Tür im Mauerwerk erspähten, mit der darübergeklebten, handgeschriebenen alten Nachricht:
Briefe und Forderungen betreffend wende man sich an den Neffen von Herrn Spitzer 132 ,
die zu entfernen weder Otto noch Giulia je einfiel, fühlten sie ein inneres Licht aufstrahlen, das ihnen verriet, wie sehr sie einander liebten.
Ihre zarten Bande, für zwei Tage zerrissen, wurden nach der Versöhnung noch enger geknüpft; ihre Seelen empfanden Vergnügen daran, den Knoten fester zu ziehen, und entzückt vom Erwachen ihrer Leidenschaft nach jenem tödlichen Kummer wussten sie nicht, wie sie ihre Gefühle auskosten und einander ihre große Liebe beweisen sollten in dieser Unendlichkeit, die sie erfüllte. Sie liefen durchs ganze Haus und verfolgten einander, riefen sich, küssten sich, richteten gegenseitig ihre Kleidung oder brachten sie aus Spaß in Unordnung und sprachen sich mit zärtlicher Stimme an, einzig um «du» zueinander zu sagen und die neuen Wonnen dieser Vertrautheit zu genießen. So kamen Otto mit einem Abstand von nur wenigen Tagen dieselben Zärtlichkeiten über die Lippen, mit denen er die Schlosser bedacht hatte, dieselben Gedanken, dieselben Sätze, bis hin zur selben Abfolge und denselben Worten, sodass der Liebhaber, wie sehr es ihn auch verdrießen mochte, der Belcredi nach und nach dieselben niedlichen Namen gab, mit denen er auch die Tänzerin gerufen hatte – wie beschränkt sind doch die Möglichkeiten des Mannes, die Unendlichkeit seines Herzens zum Ausdruck zu bringen!
Und im Übrigen, was bedeutete ihm das schon! Was bedeutete ihm eine andere Frau, wenn er doch Giulia besaß! Weder er noch sie hatte je zuvor ein so passendes Gegenstück gefunden. Sie fühlten sich einzigartig, allein auf der Welt; und sie machten sich sozusagen stündlich einer vom anderen neue Bilder, die sie nach ihrer Sinnlichkeit und Fantasie verschönerten, und errichteten gleichsam Götzen in ihrem Innern, um sie anzubeten. «Wie süß du bist! Wie gut du bist!», sagte der Junge immer wieder zu Giulia, obwohl der
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