Götterfluch 1 - Der Geraubte Papyrus
Wadjet, Sechmet und Bastet öffnete die Herrin über die großen Mysterien den Eingeweihten die Himmelspforten.
Ihre Aufgabe bestand nicht darin, eine Lehre zu verbreiten oder zu verändern, sondern Maats Werk fortzusetzen in der vorschriftsmäßigen Durchführung der Rituale des Ersten Mals, dieses fortwährend erneuerten Augenblicks, in dem sich das Licht des Worts gezeigt hatte. Seine Kraft bündelte sich in dem Heiligtum, und nur Fachleute durften mit äußerster Vorsicht damit umgehen.
Nach dem Morgengottesdienst begab sich Wahibra in die Weberei. Dort fertigten Priesterinnen die Stoffe an, die für die Ritualfeiern zu Ehren von Osiris benötigt wurden, und die jüngste unter ihnen, Nitis, war nicht etwa die am wenigsten geschickte. Indem sie eine innere Freude und ein Leuchten ausstrahlte, die die Ärgerlichen besänftigten und den Klagenden neue Kraft verliehen, vollbrachte Nitis eine Art Wunder: Die gesamte Schwesternschaft stimmte einmütig zu ihren Gunsten.
Beim Anblick des Hohepriesters erhoben sich die Weberinnen und verneigten sich vor ihm.
»Komm mit, Nitis, ich muss mit dir sprechen.«
Die junge Frau folgte Wahibra bis zu einem Gebäude, das den Namen ›Haus des Lebens‹ trug. Es war von hohen Mauern umgeben und durfte nur von denjenigen betreten werden, die in die Mysterien von Isis und Osiris eingeweiht waren.
»Die Zeit ist gekommen, dass du durch diese Tür gehst«, sagte der Hohepriester.
Beinahe hätte Nitis einen Schritt zurück gemacht.
»Ich bin zu jung, ich …«
»Hiermit ernenne ich dich zur Obersängerin und Oberweberin der Neith. Im Inneren vom Haus des Lebens wirst du die heiligen alten Schriften finden, die dort seit der Geburt des Lichts gesammelt und aufbewahrt werden, und die feierlichen Ritualsprüche, die wir ohne Unterlass wiederholen sollen. Ich bin alt und krank und muss mein Wissen jetzt weiterreichen. Deshalb will ich deine Ausbildung abschließen, damit du meine Nachfolge antreten kannst.«
Auf einmal drückte das ganze Gewicht des Tempels auf die Schultern der zierlichen jungen Frau.
»Herr, ich …«
»Nicht einmal tausend Einsprüche können etwas dagegen ausrichten. Mit deinem Zauber und deinem Sinn für Begriffliches hast du selbst diese unwiderrufliche Entscheidung herbeigeführt. Ich war damals genauso wenig wie du auf ein hohes Amt aus. Dazu musst du allen Ehrgeiz verlieren, du musst den Göttern dienen, nicht den Menschen. Nur wenn du dich mit aller Strenge daran hältst, kannst du deine schwere Last ertragen.«
Die Tür zum Haus des Lebens öffnete sich.
Ein kahler Priester empfing Nitis und führte sie zum Mittelpunkt des Gebäudes, einem gepflasterten Innenhof, wo sie das Bild des auferstandenen Osiris betrachten durfte.
Dann zeigte ihr Wahibra die Schriften, die die alten Seher verfasst hatten und aus denen sich die ägyptische Spiritualität entwickelt hatte. Nitis nahm diese Worte der Macht begierig in dem Bewusstsein in sich auf, dass sie deren Bedeutung nie ganz ergründen würde.
16
O bwohl sie von all dem Neuen noch immer wie geblendet war, konnte Nitis ihrem Lehrmeister die Sorgen nicht verschweigen, die ihre gewohnte Heiterkeit trübten. Als sie sich beim gemeinsamen Essen gegenübersaßen, vertraute sie sich ihm an.
»Es tut mir sehr leid, aber ich muss Euch mit den Qualen der Welt da draußen belästigen«, sagte sie bedauernd. »Angesichts der äußerst schwierigen Lage brauche ich Euren Rat.«
Nitis' ernste Miene beunruhigte den Oberpriester.
»Ich habe einen Schreiber kennengelernt, der auch Übersetzer ist«, begann sie. »Er heißt Kel. Man beschuldigt ihn, alle anderen Übersetzer ermordet zu haben, er aber beteuert seine Unschuld – und ich glaube ihm.«
Wahibra war entsetzt.
»Das Übersetzeramt ist für die Sicherheit unseres Landes unerlässlich«, erklärte er. »Ohne diese Fachleute wären wir in den Beziehungen zu unseren Nachbarländern taub und blind. Da mich niemand von diesem Unglück unterrichtet hat, wurde die Sache offenbar streng geheim gehalten.«
»Kel hält sich für das Opfer unglaublicher Machenschaften. Sollte es sich tatsächlich um eine Verschwörung handeln, sind mit Sicherheit hochrangige Persönlichkeiten in die Sache verwickelt.«
»Ein Verbrechen von derartiger Tragweite – ist dieser Schreiber nicht vielleicht nur ein einfallsreicher Geschichtenerzähler?«
»Mich hat seine ehrliche Art überzeugt. Als jüngster Übersetzer im Amt, der im Laufe eines Festmahls betäubt wird, damit er am
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