Götterfluch 1 - Der Geraubte Papyrus
von Maat – und jetzt bin ich mehrerer Morde angeklagt!«
»Ja, ich verstehe Euch«, sagte sie leise. »Nur die Wahrheit kann den Einklang wiederherstellen.«
Da kam ihr plötzlich etwas Beunruhigendes in den Sinn.
»Bei dem Festmahl war noch eine dritte hochrangige Persönlichkeit geladen«, sagte die Priesterin, »Horkheb, der Oberarzt aus dem Palast.«
»Ein Mediziner … Ihm stehen alle Betäubungsmittel zur Verfügung.«
»Horkheb ist der Leibarzt der königlichen Familie«, fuhr Nitis fort. »Er gilt als ausgezeichneter Fachmann, klug, aber auch überheblich. Er fehlt bei keinem großen Empfang, legt großen Wert auf sein gutes Ansehen, mischt sich aber nicht in Regierungsangelegenheiten ein, sondern ist vorwiegend damit beschäftigt, ein riesiges Vermögen anzuhäufen. Warum sollte er sich an einer derartigen Verschwörung beteiligen?«
»Weil man ihn wahrscheinlich stattlich dafür bezahlt hat!«
»Das sind doch nur Vermutungen.«
»Aber immerhin eine erste Spur – dank Eurer Hilfe! Ihr habt mir wirklich sehr geholfen, Nitis, und ich danke Euch von ganzem Herzen. Jetzt muss ich aber los.«
»Mitten in der Nacht? Das wäre der reine Wahnsinn! Ihr schlaft hier.«
»Auf keinen Fall, ich darf Euch nicht in Gefahr bringen. Euer guter Ruf …«
»Kein Mensch weiß, dass Ihr hier bei mir seid. Und ich kann Euch unter diesen Umständen auf keinen Fall im Stich lassen. Mein Meister, der Oberpriester aus dem Neith-Tempel, ist ein einflussreicher und angesehener Mann, der Pharao gibt viel auf seine Meinung. Ich habe beschlossen, ihm von Euch zu erzählen und ihn um seinen Rat zu bitten.«
15
W ahibra, der Oberpriester der Neith, feierte jeden Morgen den Kult zur Anbetung der Göttin mit noch größerer Ehrerbietung.
Kurz vor Tagesanbruch reinigte er sich im heiligen See, legte ein weißes Gewand an und vollzog im Herzen des Heiligtums das friedliche Erwachen der Großen Mutter, aus der das geheime Licht hervorging – die Quelle vielfältiger Lebensformen.
Diese tägliche Pflicht war ihm keine Last, ganz im Gegenteil. In dem Bewusstsein, an der Aufrechterhaltung des irdischen Einklangs und dem Kampf gegen die zerstörerischen Kräfte teilnehmen zu dürfen, dankte der Oberpriester dem Schicksal für so viel Glück. Deshalb zählte für ihn jede Kleinigkeit, damit die Ritualfeier jeden Tag zu einem möglichst vollkommenen Kunstwerk geriet.
In seinen Augen kam nichts der spirituellen Macht der Pyramiden aus dem Alten Reich gleich. Trotzdem schätzte er auch den Glanz des Ersten Tempels des antiken Sais, das erst zur Hauptstadt geadelt worden war. Genau im Mittelpunkt der westlichen Delta-Hälfte gelegen, verfügte es über eine strategisch günstige Lage, die für seinen beachtlichen Aufschwung in den letzten Jahrzehnten verantwortlich war. Im Hafen von Sais, den die Milesische Mauer – benannt nach der griechischen Stadt Milet – schützte, lagen beeindruckende Kriegsschiffe, die von der Verteidigungskraft Ägyptens zeugten.
Der Oberpriester vertraute darauf, dass Pharao Amasis den Schutz der Zwei Länder gewährleistete. Als erfahrener Herrscher, geschickter Verwalter und ein Mann, der als ehemaliger Heerführer den Krieg kannte und mittlerweile verabscheute, hatte der König einen immer wieder bedrohten Frieden begründet. Trotz ihres kriegerischen Wesens und ihres unstillbaren Eroberungsdrangs würden es die Perser nicht wagen, einen so beherzten Gegner anzugreifen.
Wahibra wollte nicht länger an diese Dinge denken und beglückwünschte sich für die Aufmerksamkeit, die der Herrscher dem Neith-Tempel schenkte. In seiner gesamten Anordnung dem Himmel ähnlich, beherbergte er die Götter und Göttinnen und hatte in letzter Zeit zahlreiche Verschönerungen erleben dürfen: einen Propylon, einen auf beiden Seiten von Sphingen gesäumten Gang, kolossale Standbilder der Könige, einen heiligen See von achtundsechzig Ellen Länge und fünfundsechzig Ellen Breite, zwei Ställe, die Horus und Neith gewidmet waren, einen Ruheraum für die heilige Kuh der Göttin und zahlreiche Wiederaufbauten, die mit gewaltigen Granitblöcken von Elephantine ausgeführt worden waren.
Im Tempelinneren standen mehrere Neith-Statuen, die die Göttin mit der roten Krone von Unterägypten zeigten – dem Zeichen für Geburt und Wachsen des schöpferischen Urgesetzes. Sie trug zwei Zepter, für Leben und für Macht. Unterstützt von den Bildern ihrer Söhne Osiris, Horus, Thot und Sobek sowie ihrer Töchter Nechhbet,
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