Götterfluch 1 - Der Geraubte Papyrus
nächsten Tag verschläft und nicht von der Milch vergiftet wird, die er den anderen Schreibern für gewöhnlich gereicht hat, hat er es leider, aber verständlicherweise, mit der Angst zu tun bekommen und ist mit einem verschlüsselten Schriftstück geflohen, nach dem die wahren Mörder vermutlich gesucht hatten.«
»Hat er es denn entziffert?«
»Nein, noch nicht.«
»Hat er es dir gezeigt?«
»Ja, aber ich konnte kein Wort lesen.«
»Warum stellt er sich nicht den Wachen?«
»Weil er fürchtet, beseitigt zu werden, ehe er Gelegenheit findet, sich zu erklären.«
»Die Ordnungshüter sollen mit den Verbrechern unter einer Decke stecken? Unvorstellbar!«
»Wenn Kel nicht lügt, ist dieser Verdacht nicht unbegründet.«
»Seit wann kennst du diesen Schreiber?«
»Seit … seit besagtem Abend.«
»Und du stellst seine Worte nicht in Frage?«
»Er schwört, dass er die Wahrheit sagt, redet ohne Umschweife und kann einem offen ins Auge sehen. Zuerst wollte ich es ja auch nicht glauben, aber jetzt bin ich voll und ganz von seiner Unschuld überzeugt.«
Der Oberpriester schwieg lange.
»Hat dieser Schreiber einen anderen verdächtigt?«
»Der Oberarzt aus dem Palast, Horkheb, könnte ihm das Betäubungsmittel verabreicht haben.«
»Glaubst du nicht eher, dass Kel sich da nur eine ziemlich verrückte Geschichte ausgedacht hat?«
Quälende Zweifel überkamen die Priesterin. Hatte sich der junge Mann etwa über sie lustig gemacht?
»Studiere den Papyrus, der den sieben Worten von Neith gewidmet ist«, befahl der Priester. »Ich begebe mich jetzt in den Palast und hoffe, diesem Albtraum ein Ende machen zu können.«
»Der Palastverwalter wird Euch sofort empfangen«, sagte Henats persönlicher Sekretär zu dem Oberpriester.
Der Herr über den Geheimdienst hatte ein über die Maßen nüchternes Arbeitszimmer – es gab keinen Schmuck, nur einige schlichte Möbel.
Kaum hatte der Besucher den Raum betreten, fühlte er sich äußerst unwohl in seiner Haut.
»Was gibt es, mein Freund, habt Ihr Ärger?«
»Stimmt es, dass die Schreiber aus dem Übersetzeramt ermordet wurden?«
Henat wich dem Blick des alten Mannes aus.
»Das ist eine ziemlich schlimme Frage!«
»Ist es wahr oder nicht, ja oder nein?«
»Ihr bringt mich in Verlegenheit.«
»Hat man Euch verboten, den Oberpriester der Neith von der Sache zu unterrichten?«
»Nein, bestimmt nicht! Aber angesichts der ernsten Lage …«
»Dann hat das Unglück also tatsächlich stattgefunden.«
»Ich fürchte ja. Zum Glück wurde die Untersuchung aber sehr schnell zu Ende geführt, und wir wissen, wer der Schuldige ist.«
»Sein Name?«
»Bitte versteht, dass ich keinen Namen nennen darf …«
»Muss ich Euch erst daran erinnern, wer ich bin?«
»Darf ich Euch denn um größtmögliche Verschwiegenheit bitten?«
Wahibra nickte ungeduldig.
»Es handelt sich um den Schreiber Kel, der als Letzter im Übersetzeramt eingestellt wurde.«
»Ist das sicher, oder handelt es sich nur um Vermutungen?«
»Richter Gem, dessen Unbescholtenheit und Sachverstand außer Frage stehen, verfügt über erdrückende Beweise. Kel hat einen Helfershelfer, den Griechen Demos, der ebenfalls flüchtig ist. Die Wachen werden die beiden mit Sicherheit bald ergreifen und festnehmen.«
»Warum haben sie die anderen Schreiber getötet?«
»Das wissen wir nicht, und wir können es nicht erwarten, sie zu verhören.«
»Habt Ihr den Verdacht, dass es sich um eine Verschwörung handelt?«
»Dieser Verdacht lässt sich zurzeit nicht völlig ausschließen, es gibt aber auch keine Hinweise, die ihn erhärten.«
»Stehen wir ohne unsere fähigen Übersetzer nicht vor großen Schwierigkeiten?«
»Seine Majestät ist dabei, diese Schwierigkeiten zu lösen.«
Wohlgemerkt führte Henat in der Sache eine eigene Untersuchung, die er mit keinem Wort erwähnte. Richter Gem hielt sich an die gesetzlichen Vorgaben, der Herr über den Geheimdienst handelte im Verborgenen. Und trotz seiner üblichen Zurückhaltung war er fest davon überzeugt, dass die Übersetzerriege nicht von einem Verrückten oder einem gemeinen Verbrecher ausgelöscht worden war.
»Seid unbesorgt, Henat. Ich gelte wirklich nicht als Schwätzer.«
»Das hätte ich auch niemals behauptet, Oberpriester! Aber es ist besser, die Bevölkerung nicht unnötig zu beunruhigen und dieses abscheuliche Verbrechen verschwiegen zu behandeln. Richter Gem ist damit einverstanden und arbeitet ohne Aufsehen. Schließlich geht es doch
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