Göttergetöse
Das Mädchen grinste mich an und winkte.
Uns ging das Dach aus.
Die Pferde zuckten nicht mal mit der Wimper. Und wurden auch nicht langsamer. Obwohl sie in letzter Sekunde etwas Abstand voneinander nahmen.
Die Gestaltveränderung hatte schon vor dem Sprung ins Leere eingesetzt, aber erst als wir über den Rand des Daches segelten, fiel es mir auf. In Sekundenbruchteilen wuchsen meinem Roß mächtige Schwingen aus den Schultern, deren Breite drastisch abnahm. Der ganze Rücken des Viehs war schmaler geworden, bis er kaum noch breiter war als die Taille einer schlanken Frau. Die ganze Masse verteilte sich in die Flügel, die mit mächtigem Rauschen durch die Luft schwangen.
Hoffentlich hörte niemand mein Wimmern.
Wir stiegen zum Mond empor. Das Mädchen lachte, hell wie ein himmliches Glockenspiel. Anscheinend glaubte sie mit der Zuversicht der Jugend, daß wir in Sicherheit wären. Ich hatte zuviel damit zu tun, mich festzuhalten, als daß ich über Eulen, Schatten und das ganze andere Gegötter hätte nachdenken können.
Wir stiegen in die Lüfte, bis TunFaire ausgebreitet unter uns lag. Es war noch ausgedehnter, als ich es mir vorgestellt hatte. Rechts von mir glänzte das breite Band des Flusses wie Silber im Mondlicht. Überall schimmerten Lichter, denn die Stadt schläft nie. Sie kann sich fast so vieler Nachtmenschen wie Tagbewohner rühmen. TunFaire besteht eigentlich aus mehreren Städten, die zur selben Zeit am selben Ort sind. Und mit der Uhrzeit änderte sie auch ihr Gesicht. Nur in der einen Stunde vor Anbruch des Morgengrauens ist TunFaire wirklich ruhig.
Ich grub meine Finger in die Mähne des Pferdes und hielt mich mit Leibeskräften fest. Aber ich betete nicht, falls sie das erwartet hatten. Und bald faszinierte mich der bemerkenswerte Anblick der Stadt, die ich meine Heimat nenne. Als ich sie von oben sah, wunderte es mich nicht mehr, daß die halbe Welt hierher kommen wollte. Von hier oben erkannte man ihre Größe. Man mußte auf den Boden kommen, um den Gestank und den Dreck zu bemerken, den Schmerz, die Armut und die Grausamkeiten zu erleben, den irrationalen Haß und die genauso verrückten, seltenen und sinnlosen Akte von Barmherzigkeit. TunFaire war eine wunderschöne Frau. Nur wenn man sie an sich zog und das Gesicht in ihrem Haar verbarg, sah man die Läuse, die Krätze und die Flöhe.
Nicht einmal im Traum war ich über all das hinweggeflogen. Ich sah Wasserreservoirs, die im Mondlicht schimmerten, und Abwasserkanäle, die wie Runen aus Silber glänzten. Die Erde schien sich zu drehen, als die Tiere ihre Flugbahn änderten. Verblüffend! Ich bekam einen Krampf in den Händen, weil ich mich so festklammerte, aber ich war vollkommen fasziniert von dem Anblick.
»Ist das nicht toll, Mr. Garrett?« rief das Mädchen.
»Absolut.« Wenn wir wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten, würde ich ihr sagen, daß man meinen Großvater Mr. Garrett genannt hatte.
Ich warf einen Blick über die Schulter zurück. Falls wir verfolgt wurden, waren die Verfolger noch nicht dicht genug, als daß ich sie hätte sehen können. Aber es war klar, daß wir Ärger bekommen würden. Das könnte auch der Titel meiner Autobiographie sein: Ärger folgt mir auf dem Fuß. Obwohl er mir normalerweise auflauert. Ob Nog mir wohl durch die Luft folgen konnte?
Das Mädchen jodelte schrill und reckte eine Hand über den Kopf. Lila und violette Funken stoben in die Nacht. Ihr Roß senkte den Kopf und ließ sich nach unten fallen.
Meins folgte ihm. »Scheiße!« Ich schien in ein bodenloses Loch zu stürzen. Anscheinend hatte mein Gaul wieder Lust auf ein Wettrennen. TunFaire flog mir entgegen und wurde mit jeder Sekunde weniger faszinierend.
Mein Magen blieb oben an den Sternen kleben. Gut, daß ich nichts zu Abend gegessen hatte. Vermutlich hätte ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt.
Die geflügelten Rösser sanken in großen Kreisen hinunter und bewegten dabei ihre Flügel kaum öfter als Bussarde auf Patrouille. Straßen und Laternen weiter unten drehten sich. Schon bald konnte ich einzelne Strukturen erkennen, dann sogar einzelne Leute, von denen aber niemand aufsah.
Das tun die Leute sowieso selten, was ich gelegentlich ausnutze, aber daß ich meine Welt jetzt vom Rücken eines Pferdes sah, verlieh dem eine ganz neue Dimension.
Meine Angst hatte etwas abgenommen. Ich konnte wieder denken und war stolz, daß ich meine Unterwäsche nicht wechseln mußte. Vermutlich hatte ich mich mittlerweile an
Weitere Kostenlose Bücher