Götterschild
zu einer langen Erklärung an. »Also gut«, begann sie, »Thalia nennt mich deshalb Mutter, weil ich versucht habe, genau das für sie zu sein, seit dem Überfall auf die Schule. Sie hatte einfach niemand anderen.« Sie machte eine kleine Pause und Thalia merkte, wie die Aufregung in ihrer Mutter von Neuem anzuschwellen begann. »Arlion ist dagegen mein leiblicher Sohn.« Sie strich Thalia bei diesen Worten über den Kopf und fügte eilig hinzu: »Aber ich liebe sie natürlich beide wie meine eigenen Kinder.«
Artons Erschütterung war offensichtlich. Thalia begriff nicht, warum ihn diese Eröffnung so hart traf, empfand aber sofort Mitleid mit dem großen Mann.
»Du hast einen Sohn?«, entfuhr es ihm. »Bist du etwa mit einem anderen …?«
»Bei den Göttern, nein!«, unterbrach ihn Tarana entsetzt. »Es gibt keinen anderen Mann. Das ist dein Kind, Arton! Arlion ist dein Sohn!«
Thalia wurde so sehr davon in Beschlag genommen, Artons Reaktion auf diese ungeheuerliche Eröffnung zu verfolgen, dass sie über die eigentliche Bedeutung der Worte ihrer Mutter gar nicht nachdachte. Es drangen zwar immer noch keinerlei Gedanken aus dem Kopf des Kriegers nach außen, aber sein Gesicht verwandelte sich in ein so deutliches Abbild seines Denkens, dass jeder Beobachter auch ohne Thalias spezielle Gabe unschwer erraten konnte, was in Arton gerade vor sich ging. Die verschiedensten Gefühle spiegelten sich in so rascher Folge in seinem einzelnen unversehrten Auge wider, als wäre es ein Fenster, hinter dem ein Herbststurm Blätter vorüberbläst. Zweifel, Furcht, Freude, Bedauern, Staunen – all diese Empfindungen zuckten in wenigen Herzschlägen über Artons zerfurchtes Gesicht.
Tarana nahm Arlion auf den Arm. »Das ist dein Vater, Arlion«, erklärte sie ihm mit sanfter Stimme. Thalia konnte spüren, wie Furcht und Neugier in ihrem Bruder miteinander rangen. Schließlich streckte Arlion langsam einen Finger aus und berührte vorsichtig Artons Narbe unter dem Auge.
›Tut das weh?‹ Wie selbstverständlich verwendete Arlion die Gedankensprache. Arton zuckte zusammen, als hätte ihm die Berührung Schmerzen bereitet. Erschrocken zog Arlion seine Hand zurück.
,Nein, nein, Arlion’, dachte Arton sofort und ergriff den Finger des Jungen so sachte, als handle es sich um ein rohes Ei. Er legte Arlions Hand wieder auf die Narbe. ›Das tut nicht weh. Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du da ruhig hinfassen.‹ Er zögerte, dann wandte er sich an Tarana und sagte in der Lautsprache: »Ich bin überrascht, wie viel er schon reden kann. Er benutzt die Geistsprache, als wäre es das Normalste auf der Welt.« Er sah wieder den kleinen Arlion an und ein neuer Ausdruck zeigte sich in seinem Gesicht, bei dem Thalia eine Weile brauchte, um ihn zu deuten. Dann begriff sie. Es war Stolz, der Stolz eines Vaters auf seinen Sohn.
Tarana lächelte glücklich. »Die Hebamme unseres Stammes sagte immer, seine Sprache sei seinem Alter weit voraus. Arlion ist ein echtes Geschenk der Göttin, genauso wie deine Rückkehr, Arton.«
Tarana und Arton sahen sich an. Plötzlich zog Arton Tarana und Arlion zu sich heran und schloss sie in seine Arme. Er kniff dabei sein gesundes Auge fest zusammen, als müsse er Tränen unterdrücken, und es schien, als wolle er die beiden nie wieder loslassen.
Doch Thalia konnte die Freude der drei nicht teilen. Sie fühlte sich auf einmal ausgeschlossen. Erst jetzt wurde ihr klar, was die Worte ihrer Mutter eigentlich zu bedeuten hatten. Arlion war wirklich das Kind von Tarana und Arton, »leiblich«, so hatte es ihre Mutter ausgedrückt. Thalia war hingegen nicht leiblich, Arton nicht ihr Vater. Und was Tarana betraf, wurde diese von Thalia zwar Mutter gerufen, aber im Grunde ihres Herzens wusste das Mädchen, dass die Istanoit nicht ihre richtige Mutter war. Sie hatte diesen Gedanken immer von sich geschoben, hatte die vielen Hinweise geflissentlich ignoriert, aber das änderte nichts an der bitteren Wahrheit. Und jetzt, da Tarana, Arton und Arlion sich zu einer richtigen Familie zusammengefunden hatten, da störte Thalia im Grunde nur. Sie gehörte nicht dazu. Sie war überflüssig.
Mit einem dicken Kloß im Hals machte sie auf dem Absatz kehrt und suchte das Weite. Sie musste auf der Stelle fort von all diesen Glücklichen, die ihren Kummer weder teilen noch verstehen konnten. Verzweifelt bahnte sie sich einen Weg durch die Menge und wurde bald von dem Gedränge verschluckt.
Umringt von jubelnden
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