Goettersterben
passiert, wenn man deinen Freunden ihre Freiheit lässt! Sie nutzen sie zu einem einzigen Zweck: sich gegenseitig umzubringen.«
»So wie du?«, fragte Andrej. Die Worte kamen ihm sonderbar schwer über die Lippen, als wäre irgendetwas tief in ihm davon überzeugt, dass sie nicht wahr waren – oder, viel schlimmer noch: dass Lokis Worte eine Wahrheit enthielten, die er einfach nicht anerkennen wollte.
»Ich habe Menschen getötet«, sagte Loki ruhig. »Das ist wahr. Viele Menschen. Weißt du, wie viele?«
»Nein.«
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es auch nicht mehr«, sagte Loki betrübt. »Ich kann selbst nur raten. So viele, wie in einer einzigen Schlacht in diesem Krieg fallen?« Er beantwortete auch diese Frage selbst mit einem Kopfschütteln. »Nein. Wahrscheinlich weniger. Aber ich will dir auch nichts vormachen, Andrej. Du bist zu klug, als dass ich dich belügen könnte. Sollen sie sich gegenseitig umbringen, das ist mir gleich. Was hier geschieht, ist mir gleich. Wir verlassen dieses Land, ich und die, die mich begleiten.« Er ließ eine winzige, aber genau bemessene Zeitspanne verstreichen. »Du könntest zu uns gehören. Würde es dich nicht reizen, an der Erschaffung einer vollkommen neuen Welt teilzuhaben?« »Als dein Sklave?«, fragte Andrej. »Nein, danke.« »An meiner Seite«, antwortete Loki ruhig. »Als mein Verbündeter. Sklaven habe ich genug. Sie sind nützlich, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich brauche Männer wie dich. Nur deshalb habe ich dich am Leben gelassen.« Er hob die Hand, als Andrej etwas darauf erwidern wollte. »Nein, ich erwarte jetzt keine Antwort darauf. Denk über meine Worte nach, das ist alles, was ich von dir verlange.«
»Um so zu werden wie du?«, fragte Andrej.
»Aber das bist du doch längst«, antwortete Loki. Er lächelte, als versuche er einem Kind eine der einfachen Tatsachen des Lebens zu erklären, aber seine Augen blieben dabei so hart und seelenlos wie Kugeln aus bemaltem Glas. »Es gibt kein Zurück, Andrej. Ich weiß, dass du dagegen kämpfst, und so sehr ich es auch bedauere, bewundere ich zugleich deine Kraft. Aber sie wird dir nichts nutzen. Sie macht es nur schwerer für dich. Du gehörst bereits mir … du gehörst zu uns, Andrej. Sieh es ein und gib auf, oder wehr dich noch eine Weile. Das Ergebnis ist dasselbe.« Er schien etwas drüben auf der KingGeorge entdeckt zu haben, was seine Aufmerksamkeit erforderte, machte aber dann noch einmal mitten in der Bewegung kehrt und deutete auf Abu Dun. »Mein Angebot gilt auch für deinen Freund«, sagte er. »Aber denk nicht zu lange darüber nach. Meine Geduld währt nicht ewig.« Und damit wandte er sich endgültig um und trat wieder an die Reling heran. »Das war eine beeindruckende Rede«, sagte Abu Dun, als er zu ihm zurückging. »Anscheinend nimmt er meinen Vorschlag ernst.«
Andrej war nicht nach Abu Duns üblichen Scherzen zumute. Trotzdem fragte er: »Welchen? Dir Gunjir zu leihen?«
»Eine Karriere auf dem Jahrmarkt ins Auge zu fassen«, antwortete Abu Dun. »Ein Unsterblicher ist doch schließlich auch nicht schlechter als ein Mann mit zwei Köpfen, oder?«
»Er hat das ernst gemeint, Abu Dun«, sagte Andrej. Underhatrecht.EsgibtkeinZurück.
23
A
bu Dun schwieg, und das war vielleicht das Schlimmste, was er tun konnte. Nach einem schier endlosen Moment, in dem er ihn stumm verzeihend angesehen hatte – was schlimmer war, als es jeder Vorwurf hätte sein könne n –, wandte er sich wieder dem Geschehen drüben auf der King George zu. Das Schiff kam nicht näher, sondern hielt nunmehr seinen Abstand von weniger als hundert Fuß; nahe genug, dachte Andrej unbehaglich, um mit einer Salve aus ihren vierundzwanzig Kanonen selbst bei der schwer gepanzerten EL CID gewaltigen Schaden anrichten zu können. Vielleicht war ihre Position direkt hier oben hinter der Reling nicht allzu klug gewählt.
Er maß Loki mit einem sehr aufmerksamen Blick und las nichts als angespannte Konzentration auf seinem Gesicht. Da war keine Spur von Sorge oder gar Angst. Hielt dieser Wahnsinnige sich etwa für kugelfest?
»Jetzt wäre es vielleicht an der Zeit für deinen Freund und dich, unter Deck zu gehen«, sagte Loki. »Ich fürchte, dieser Narr nimmt keine Vernunft an.«
Mit dem Narren war zweifellos Captain Rogers gemeint. Das Beiboot war mittlerweile zu Wasser gelassen worden und hüpfte nun auf den Wellen neben der KingGeorge auf und ab, nur noch gehalten von einem einzelnen, straff gespannten Seil. Ein
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