Göttertrank
zu denken. Bei Nadina war Weihnachen eine drei Tage andauernde Feier gewesen. Freunde kamen vorbei, man sang, tanzte, Väterchen Frost verteilte Geschenke, und alle aßen Unmengen russischer Gerichte, die sie selbst nur für diese Tage zubereitete. Sie richtete sich nach dem westlichen Kalender, nicht nach dem orthodoxen Termin ihres russischen Vaterlandes, in dem man das Fest erst im Januar beging. Dieser Tag war dem Besuch der Kirche vorbehalten.
Fröstelnd zog ich den Wollumhang fester um mich und versuchte, auch den leisen Groll zu unterdrücken. Ich war ja selbst daran schuld. Ich hätte nicht auf Melisande hören dürfen. Man hätte mir letztlich geglaubt, dass ich Gilbert nicht ermordet hatte.
Dennoch vermisste ich vor allem meine fröhliche Freundin, die mich mit ihren respektlosen Bemerkungen immer wieder zum Lachen gebracht hatte. Ja, das Lachen fehlte mir so sehr.
Dunstwölkchen standen vor meinen Lippen, als ich im Selbstgespräch vor mich hin murmelte. Ich war zum Rheinufer gelangt und lauschte dem leisen Plätschern der Wellen, die an den Booten und Schiffen leckten. Von irgendwoher erklang ein Weihnachtslied, und viele der Fenster in den hohen, schmalbrüstigen Häusern waren von Kerzenlicht erhellt. Dahinter saß man in Wärme und Geselligkeit zusammen, und ich begann, mich unsäglich verlassen zu fühlen. Langsam wanderte ich weiter, damit meine Füße nicht noch kälter wurden.
Der Mann mit dem hochgestellten Kragen hätte mich beinahe angerempelt, blieb aber plötzlich stehen und rief: »Fräulein Ella? Das sind doch Sie, Fräulein Ella?«
Er zog seinen Zylinder und machte eine förmliche Verbeugung vor mir.
»Herr Doktor Bevering?«
»Derselbe. Was tun Sie denn hier so einsam am Rhein, Fräulein Ella?«
»Weihnachten feiern«, entgegnete ich lapidar.
»Dann sind wir unserer ja schon zwei.« Er reichte mir seinen Arm, aber ich zögerte noch, das Angebot anzunehmen. »Gewähren Sie mir die Ehre eines gemeinsamen Spaziergangs, Fräulein Ella. Es ist nicht gut, in der Dunkelheit alleine zu promenieren.« Dem konnte ich nicht widersprechen und schob meine Hand unter seinen Ellenbogen. »Sie haben mir vergangene Woche über eine schlimme Stunde hinweggeholfen, gnädiges Fräulein. Und nun laufen Sie hier in der Nässe durch die Stadt. Ist es vermessen zu fragen, warum Sie nicht bei Ihrer Familie sind?«
»Ich habe keine Familie, Herr Doktor Bevering.«
»Das muss an einem solchen Abend besonders schmerzen«, sagte er leise. »Auch meine Familie ist ausgeflogen. Ich bin in Ungnade gefallen. Sind Sie ganz alleinstehend, oder hat nur der Zufall Sie von den Ihren getrennt?«
»Meine Eltern sind tot, Geschwister oder andere Anverwandte habe ich nicht.«
»Verzeihen Sie, ich bin zudringlich. Aber eine hübsche junge Frau wie Sie müsste doch Freunde haben, Bekannte, die sich Ihrer gerade an solchen Tagen wie heute annehmen.«
»Ich bin erst seit neun Monaten in Köln.« Wir hatten den Dom erreicht, und ich schaute zu dem schwarzen Gewirr von Strebepfeilern auf. »Er ist schrecklich hässlich.«
»Er könnte eine einzigartige Kathedrale werden. Wir arbeiten unablässig daran, Fräulein Ella. Der Dombauverein steht kurz vor seiner Gründung, und sogar die knauserige preußische Regierung hat den einen oder anderen Taler locker gemacht. Aber das ist eine andere Geschichte. Darf ich mir erlauben, gnädiges Fräulein, Ihnen vorzuschlagen, dass wir in den nächsten Stunden unser Alleinsein zusammentun? Es scheint mir so unsinnig, wenn wir jeder einsam und trübsinnig diesen Abend in unseren Zimmern verbringen. Ich kann Ihnen zwar keine heiße Schokolade anbieten, aber einen anständigen Glühwein bekomme ich noch zustande.«
Er meinte es vermutlich ehrlich und hegte keinerlei unsittlichen Absichten. Dennoch schwankte ich. Es entsprach wirklich nicht den guten Sitten, wenn eine ledige junge Dame des Abends alleine einen Herrn besuchte. Andererseits – wer sollte mich schon verurteilen? Sein Vorschlag war gut gemeint und durchaus praktisch. Er bemerkte meine Zurückhaltung und ergänzte: »Keine Angst, Fräulein Ella, ich versichere Ihnen aufrichtig, ich habe nicht die Absicht, Ihnen in irgendeiner Form zu nahe zu treten. Es ist nur …«
»Sollten Sie das tun, Herr Doktor Bevering, kann ich Ihnen aufrichtig versichern, dass ich mich zu wehren weiß. Ja, ich nehme Ihre Einladung gerne an.«
Und so lernte ich das Apothekerhaus »Zum Marienbild« kennen. Es lag nur einige Schritte vom Müller’schen
Weitere Kostenlose Bücher