Göttertrank
Familienleben zu schildern. Dann aber befand sie es der Mühe nicht wert und gab einen kleinen Schwächeanfall vor, um sie endlich loszuwerden.
Der Sohn und Erbe plärrte noch immer ohrenbetäubend. Die Amme ließ mal wieder auf sich warten, stellte sie verärgert fest. Nie wäre Dorothea die Idee gekommen, das Kind selbst zu stillen. Sie nahm es nicht einmal in den Arm. Nachdenklich aber erwog sie eine andere Möglichkeit. Das dicke Kopfkissen lag in Griffnähe. Viel Aufwand wäre es nicht, das lästige Geschrei für immer zu beenden.
Aber dann zögerte sie doch noch.
Vor einigen Wochen war ein Brief von ihrem Bruder Maximilian eingetroffen. Er beschäftigte sich inzwischen in der Normandie mit der Züchtung von Zuckerrüben, was ihr vollkommen idiotisch erschien. Aber immerhin waren seine seltenen Briefe amüsant, und letztlich war er der Einzige ihrer Familie, der ihr einen gewissen Vorteil versprach. Er stand nämlich auf gutem Fuß mit ihrem Onkel Lothar, der ihn besucht hatte und offensichtlich seine Forschungen finanzierte. Großzügig finanzierte. Auch wenn er plante, wieder zu einer langen Reise aufzubrechen, angeblich diesmal nach Nordamerika, war es gewiss nicht schlecht, wenn auch sie sich ihm wieder in Erinnerung brachte. Erst sandte sie ihm herzliche Grüße über Maximilian, dann raffte sie sich zu einem sehr höflichen Brief an ihn auf, in dem sie ihre Rolle als tugendhafte Landpomeranze schilderte und ihre Einsamkeit auf dem abgelegenen Landgut nur leise zwischen den Zeilen anklingen ließ. Dieses Schreiben hatte einen unerwarteten Erfolg gezeitigt. Nämlich in der Gestalt eines neuen Küchenchefs. Monsieur Gérôme Médoc war kurz nach der Geburt ihres Sohnes eingetroffen nebst einem versiegelten Brief ihres Onkels, der ihr empfahl, den Franzosen einzustellen, ohne bitte allzu genau auf seine Zeugnisse zu achten. Zudem enthielt das Schreiben den dringlichen Rat, die Finger vom Küchenpersonal zu lassen.
Der Mann war ein Genie, das hatte sie bereits in den ersten Tagen seiner Regierungszeit in der Küche festgestellt. Selbst Richard war angetan von den Speisen, die er zubereitete, und hatte die alte Köchin in den Ruhestand geschickt.
Außerdem hatte Onkel Lothar sie darauf hingewiesen, sie habe als Mutter des Titelerben sicher eine neue Würde gewonnen, worüber sie nur bitter auflachen konnte. Noch verschonte ihr Ehemann sie mit seinen Zuneigungsbekundungen, aber lange würde das sicher nicht mehr anhalten. Dennoch gab ihr die Formulierung gerade im Augenblick einiges zu denken.
Sie war die Mutter des Erben.
Über die Gesetzgebung zum Ehe- und Erbrecht hatte sie sich in stillen Stunden kundig gemacht. Bei ihrem letzten Besuch in Greifswald hatte sie – unter falschem Namen, das verstand sich von selbst – einen Juristen aufgesucht und ihn nach Möglichkeiten einer Scheidung befragt. Dabei waren auch Vermögensverhältnisse und Rechte und Pflichten gegenüber Kindern zur Sprache gekommen. Es war alles in allem ziemlich ernüchternd gewesen. Eine Scheidung konnte sie zwar einreichen, aber selbst wenn ihr Gatte tatsächlich einwilligte, statt sie deshalb halb tot zu prügeln, würde sie mittellos dastehen. Und das Kind würde in der Obhut des Vaters bleiben.
Nur wenn der Vater das Zeitliche segnete, läge die Vormundschaft bei der Mutter. Und das Vermögen würden sie und ein Treuhänder für den Jungen verwalten.
Vielleicht war es doch ganz gut, dieses plärrende Balg am Leben zu lassen.
Und sich derweil den Küchenchef mit der mysteriösen Vergangenheit näher anzuschauen.
Gemeinsame Wurzeln
Erst die Erinnerung muß uns offenbaren den Segen, den uns das Geschick verlieh.
Josef Pape
Alexander pfefferte den Brief zornig in die Ecke. Es war ja nicht anders zu erwarten gewesen. Reinecke stellte sich stur – Julia habe bei der Mutter zu bleiben. Rechtlich gesehen, hatte sein Freund Erich ihn aufgeklärt, könnte er sehr wohl darauf bestehen, seine Tochter zu sich zu nehmen. Aber sein Schwiegervater würde alle Möglichkeiten ausschöpfen, um ihm Steine in den Weg zu legen. Zumal irgendeine dünkelhafte Seele Reinecke auch noch gesteckt hatte, er habe ein ehebrecherisches Verhältnis mit einer verheirateten Frau angefangen. Laura von Viersen aber wollte Alexander auf jeden Fall aus diesem Zwist heraushalten.
Wer der Zuträger dieses privaten Leckerbissens war, konnte er sich sogar recht gut vorstellen. Karl August Kantholz, Spitzel und Stänkerer an der Bonner Universität,
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