Göttertrank
Alexander.«
Er blickte über die Hecke hinaus, aber ich war mir sicher, er sah das herbstbunte Laub des nahen Waldes nicht. Und auch ich war betroffen von dem seltsamen Fädengewirr unseres Schicksals.
»Du weißt jetzt schon seit über zwei Jahren von deiner Familie, Alexander. Warum hast du dich nicht bei ihnen gemeldet?«
»Weil ich ein Feigling bin, Amara. Ein nichtswürdiger Feigling.«
»Du hast Angst?«
»Ja, ich habe Angst. Ich bin ein Fremder für sie. Ich habe kein besonders blütenreines Leben geführt. Ich habe Fehler …«
»Vermutlich, aber die hättest du auch gemacht, wenn du bei ihnen aufgewachsen wärst. Ich habe deine Mutter als gütige, liebevolle Frau in Erinnerung, die, solange ich bei ihnen lebte, nicht die Trauer um ihren ältesten Sohn ablegen konnte. Ich kenne den Grafen nur als verständnisvollen Vater, der dich schmerzlich vermisste, und Julius als liebenswerten Mann, der seinen älteren Bruder nie vergessen hat.«
Alexander sah gequält aus.
»Du kennst meine Familie besser als ich, Amara. Verstehst du nicht – ich kann nicht einfach hingehen und sagen: ›Guten Tag, Leute, hier bin ich und melde meinen Anspruch auf den Titel an.‹«
»Ist es das, was dich hindert? Der Grafentitel?«
»Unter anderem. Julius ist jetzt der Erbe, warum soll ich ihm fortnehmen, was ihm seit Jahren zusteht – Vermögen, Titel, Privilegien?«
»Musst du doch gar nicht. Du kannst doch darauf verzichten. Als Alexander Masters, Ingenieur, bist du schließlich auch etwas in der Welt wert, oder?«
»Ja, das hoffe ich. Aber …«
Er wirkte so verwirrt, dass er mir richtiggehend leidtat. Ich nahm die Flasche und teilte den Rest Wein zwischen uns auf.
»Es sind auch noch Schokoladenpralinen im Korb. Mit Sahne- und Kakaocreme gefüllt. Die hat Nettekoven für dich hineingelegt.«
»Ich mag eigentlich Süßes gar nicht so gerne«, meinte ich, holte aber dann doch die Schachtel heraus. »Oh, Halloren!« Und dann fiel mir eine Begebenheit ein, mit der ich Alexander vielleicht die Idee schmackhaft machen konnte, sich doch mit seinen Eltern in Verbindung zu setzen. »Zu diesen Häppchen aus Halle kann ich dir eine hübsche Geschichte von Julius und deinem Vater erzählen.«
»Dann tu das.«
»Allerdings kenne ich sie nur, weil ich verbotenerweise an der Tür gelauscht habe.«
»Dann wird sie umso pikanter sein, nicht wahr?«
»Bilde dir selbst ein Urteil. Es ist schon ziemlich lange her. Ich war acht Jahre alt, und es war um die Osterzeit. Ich freute mich darauf, denn in den Ferien würde Julius nach Hause kommen. Er ging zu der Zeit in Berlin zur Schule. Er überraschte mich, als er plötzlich schon zwei Wochen vor dem angekündigten Termin vor der Tür stand. Genauso überraschte mich seine ziemlich kleinlaute Haltung. Ich wollte zu ihm laufen und ihn begrüßen, aber euer Vater trat zuerst auf ihn zu.«
Ich schloss die Augen, und die Szene wurde vor mir so lebendig wie damals. Ich meinte geradezu die milde verwunderte Stimme des Grafen zu hören, mit der er mit einem seltsamen Unterton fragte: »Relegiert worden, Junge?«
»Ja, Herr Vater.«
»Was für ein Verbrechen hast du begangen?«
»Karl August Kantholz ein blaues Auge verpasst.«
»Hat er es verdient?«
»Ja, Herr Vater.«
»Und warum bist du dann hier?«
»Der Rektor sah es anders.«
»Muss ich mit ihm oder mit dir reden?«
»Besser mit mir, Herr Vater.«
»Dann komm in die Bibliothek.«
Dort druckste Julius zunächst ein bisschen herum, bis der Graf ihn streng mahnte, die Wahrheit zu sagen.
»Ich will aber nicht petzen.«
»Das ehrt dich, aber ich denke nicht, dass es sich mir gegenüber um Petzen handelt, Julius. Wenn ich Konsequenzen ziehen muss, will ich die Wahrheit wissen. Auch wenn sie unangenehm ist.«
»Na gut. Also, Eddy, der Sohn von Bülows, bekommt von seinen Eltern häufig Futterpakete. Er ist erst elf, und er ist ein bisschen verweichlicht. Und klar, er gibt von den Halloren, die in den Paketen sind, nicht gerne welche ab. Aber Karl August ist ständig hinter den Dingern her.«
»Wer ist jener Karl August?«
»Das ist ein komischer Kerl, Herr Vater. Er bekommt nie irgendwelche Pakete, und Geld hat er auch keins.«
»Was ihn sicher nicht von vorneherein zum schlechten, allenfalls zum bedauernswerten Menschen macht.«
»Sie haben natürlich recht, Herr Vater. Nur – er hat den kleinen Eddy gezwungen, ihm die Pralinen jedes Mal auszuhändigen, wenn er eine Sendung bekam.«
»Gezwungen?«
»Er … er hat
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