Göttertrank
und beschloss, seinem Menschen über die Schulter zu schauen.
Der Mann saß an einem großen Tisch, den Papiere, Bücher, Zettel, Stifte und Schreibfedern bedeckten. Sie zu zausen war eine Verlockung, der Murli leider schon oft erlegen war – sehr zur Verärgerung des großen Gelehrten, weshalb er diesmal davon Abstand nahm, auf den Tisch zu springen. Stattdessen erklomm er die ledergepolsterte Rücklehne des Stuhls und legte seine Vorderpfoten auf die von einem dicken, weichen Wams bedeckten Schultern.
Der Besitzer des Wamses hatte die Hand mit der Feder sinken lassen und sann über ein wichtiges Problem nach. Murli verstand, wie wichtig das war. Sein Mensch war eines der seltenen Exemplare der Gattung nackthäutiger Zweibeiner, die sich um wirklich bedeutende Themen kümmerten.
»Ah, Murli«, grüßte er ihn. »Mein pelziger Vertreter aus dem Reich der Tiere.«
»Mirrrr«, stimmte ihm der Kater zu.
»Vom Stamme der Wirbeltiere.«
Mit einer Hand griff der Mann nach hinten und strich Murli über den Rücken.
»Schnurrrr!«
»Den Raubtieren zugeordnet.«
»Grrrr!« Unwirsch, weil die streichelnde Hand zurückgezogen wurde, tatzte Murli nach dem Barett, das das gelehrte Haupt wärmte.
»Aus der edlen Familie der Katzen.«
Murli ließ die Kopfbedeckung fahren und legte sich zufrieden brummelnd um den Nacken seines tiefschürfenden Menschen.
»Von der Art der felidae sapiens.«
Natürlich, was sonst.
Doch wenn Carl – der Mensch hatte natürlich ebenfalls einen Namen – auch weitere Tabellen beschriftet hatte, so handelte es sich heute offensichtlich um das zweite Reich, das er bearbeitete – das der Pflanzen. Die mochten für diese mahlzahnigen Allesfresser ja von Bedeutung sein, Murli hätte eher die Zuordnung von Mäusen, Fischen und Vögeln interessiert. Aber er wollte nicht ungefällig sein, und deshalb rieb er seinen Kopf an der stoppelbärtigen Wange, was den Menschen zum Lachen brachte.
»Den Kakteen sollen wir ihre Stacheln lassen. Gut so. Suchen wir uns ein erfreulicheres Thema.«
Carl Linnaeus griff nach der Tasse mit dem heißen Kakao, den er gerade an diesen dunklen, kalten Wintertagen so liebte, und nahm einen großen Schluck davon.
»Ja, wie wäre denn das – der Kakaobaum? Sehen wir ihn uns einmal näher an. Gewiss ist, dass er zum Reich der Pflanzen gehört.« Er schlug einen Folianten auf und blätterte eine Weile, dann versenkte er sich in die Abbildung eines Baumes. »Blüten trägt er auch, und sie haben fünf Blätter. Also stecken wir ihn in die Klasse der Rosidae. Seine Samen liegen innerhalb der Früchte, daher dürfen wir ihn guten Gewissens den Kapselfrüchten, den Malvacaea , zuordnen. Fragen wir nach der Familie!«
Eine Weile las Carl in den Aufzeichnungen, bis er schließlich nickte. »Blüten an kleinen Stängeln, also ein cauliflores Tropengewächs – das macht ihn wohl zu einem Mitglied der Sterculiaceae. Und nun, Murli, müssen wir dem Kakaobaum einen passenden Namen geben, damit er in der Botanik einen würdigen Klang hat.«
Carl Nilsson Linnaeus, der Jahre später ob seiner Verdienste, Ordnung in die Welt gebracht zu haben, geadelt und als Carl von Linné bekannt wurde, stand auf, den Kater um die Schultern, die Tasse in der Hand, und trat zum Fenster. Fern am Horizont bildete sich ein erster perlmuttartiger Schimmer, der das Ende der langen Winternacht ankündigte. Mit Genuss trank der Gelehrte seine Schokolade aus und ein erhebendes Gefühl überkam ihn, als die Strahlenpfeile der aufgehenden Sonne in den aufglühenden Himmel schossen.
»Göttlich!«, flüsterte er ergriffen. Dann lachte er. »Die Sonne, genau wie die Schokolade. Mein lieber Kater, das ist es! Eine Speise für die Götter. Theo Broma. Ja, so soll der Baum heißen, der diese Köstlichkeit liefert: Theobroma cacao.«
Und so wurde der Name, den schon die ersten Menschen, die den Genuss der Kakaobohne entdeckten und der Schokolade verliehen hatten, offiziell und für alle Zeiten festgelegt.
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