Göttertrank
entscheiden könntest, in die Firma einzutreten. Meine Partner und ich würden dich durch alle relevanten Bereiche leiten, damit du dir ein Bild von den Betätigungsfeldern machen kannst.«
Blauer Zigarrenrauch schwängerte die Luft, und im Kamin knisterte noch ein Feuerchen, um die abendliche Kälte zu vertreiben. Der Kuchen – und manches andere mehr – lag Jan Martin plötzlich schwer im Magen. Natürlich wünschte sein Vater sich, er möge später sein Nachfolger werden. Nur …
Die Stille lastete im Raum. Er nahm das Glas und nippte daran. Der trockene Sherry schmeckte ihm nicht. Ebenso wenig wie die Vorstellung, in einem engen Kontor trockene Zahlen zu addieren. Jan Martin liebte das Leben. Buchstäblich. Er liebte Pflanzen und Tiere und sogar die Menschen, sofern es ihren Körper betraf. Er bestaunte die Natur in ihren unzähligen Spielarten, in ihren verblüffenden Formen und ihrem unterschiedlichen Verhalten, das Wachsen und Reifen, das Sterben und Gebären. Er wollte ergründen, woraus das Leben bestand, wie es funktionierte, wie man es beeinflussen, verändern, heilen konnte. Seit dem Unfall auf dem Schiff hatte er sich oft mit Doktor Roth unterhalten. Er hatte in seiner freien Zeit begonnen, ihm bei dem Aufbau seines botanischen Gartens in Vegesack zu helfen, hatte gepflanzt, gekreuzt, gezüchtet. Er hatte mit Früchten und Samen experimentiert, Keimlinge beobachtet und den Flug der Insekten bei der Bestäubung der Blüten verfolgt.
»Sie sind heute von dem Pastor in die Gemeinde der Gläubigen aufgenommen worden und damit auch in die Welt der Erwachsenen, Jan Martin. Ich denke, Ihr Vater wird Ihre Entscheidung entsprechend bewerten.«
Sehr ruhig klang Doktor Roths Stimme, und Jan Martin flocht die Finger ineinander. Die förmliche Anrede brachte ihn noch einmal in Verlegenheit, dann aber schlich sich Begreifen in sein Bewusstsein. Er saß hier, ein Mann unter Männern. Er wurde gefragt, was er zu tun gedachte. Sein Vater hatte seine Hoffnung ausgedrückt, aber nichts befohlen. Es machte Jan Martin fast schwindelig. Bisher hatte er gehorsam alle Anordnungen seiner Eltern befolgt. Diesmal wurde es ihm freigestellt zu gehorchen oder eine eigene Meinung zu äußern. Es war verblüffend, irritierend. Aber es war eine Chance. Vielleicht enttäuschte er seinen Vater, wenn er es ablehnte, in die Firma einzutreten. Aber es ging um sein Leben, und er stellte jetzt, in diesem Moment, die Weichen.
Er nahm noch einen Schluck Sherry, der diesmal nicht ganz so unangenehm schmeckte, und richtete sich in seinem Sessel auf.
»Vater, ich danke Ihnen für das Angebot, das Sie mir gemacht haben. Aber ich glaube, Cousin Joachim würde weit mehr Gefallen daran finden, kaufmännische Arbeiten zu erledigen. Er versteht viel von Zahlen, disponiert gerne und hat einen gradlinigen Verstand.«
»Den hast du auch.«
»Ja, Vater, den habe ich auch, aber er reibt sich lieber an anderen Fragestellungen als an denen von Einkauf und Verkauf.«
»Und du bist der Meinung, man muss Gefallen an seiner Arbeit haben?«
»Ich denke, man ist dann erfolgreicher darin.«
Jantzen nickte zustimmend, und Jan Martin nahm all seinen Mut zusammen, atmete tief durch und bekannte sich zu seiner Berufung.
»Vater, ich möchte Medizin und Botanik studieren. Ich will forschen. Ich will es mehr als alles andere.«
»Dann, mein Junge, wirst du wohl auch erfolgreich darin sein.«
Der Mann in Jan Martin trat zurück in den Hintergrund, und der Junge fragte ängstlich: »Und Sie sind mir nicht böse, weil ich nicht Kaufmann werden möchte?«
Lächelnd stand sein Vater auf und drückte ihm die Hand auf die Schulter.
»Nein. Ich bin stolz auf dich, dass du eine so klare Vorstellung von deinen Zielen hast. Du hättest um Bedenkzeit bitten können. Noch drei Jahre nachdenken, mit Ideen herumspielen und allerlei Versuche wagen können. Aber du scheinst einen festen Willen zu haben, also werden wir uns beizeiten um eine passende Universität kümmern, in der du die beste Ausbildung erhältst. Und – ja, du hast auch in dieser Sache recht, Joachim soll seine Chance haben.«
Als Jan Martin spät in der Nacht in sein Schlafzimmer ging, angenehm beduselt von dem dritten Glas Sherry, warf er einen zufälligen Blick in den Spiegel. Zuerst war das Bild unscharf, etwas verschwommen. Doch es klärte sich, und er erkannte hinter dem pummeligen, pickligen Jungen mit dem vernarbten Gesicht den Schatten eines Mannes, zu dem er sich nun entwickeln
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