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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Verpflegungssituation drastisch. So sehr, dass es im Frühjahr seinen Bargeldbestand dramatisch schmälerte, weil er dringend neue Kleidung benötigte.
    Doch trotz der halbwegs angenehmen Situation war Alexander unzufrieden. In den Zeitungen, die eilige Reisende liegen gelassen hatte, las er über neue technische Entwicklungen. Eisenbahnen nahmen ihren Betrieb auf, sogar mit Maschinen auf Rädern, die nicht auf Gleisen, sondern über die Straßen fahren sollten, experimentierte man. In Schiffen setzte der Dampf die großen Schaufelräder in Bewegung, in Bergwerken trieb er Pumpen an, und in immer mehr Fabriken aller Art wurde die neueste Technik eingesetzt.
    Der Fortschritt nahm in eiligem Tempo seinen Lauf. Und er war nicht dabei!
     
    Dennoch hatte das Schicksal sich entschieden, Alexanders Flehen oder möglicherweise auch sein Fluchen zu erhören, und eine drastische Wendung vorgesehen. Sie trat just an dem Tag ein, den er am liebsten aus dem Kalender gestrichen hätte – dem 18. Juni. Waterloo-Gedenktag war es, und in Erinnerung an Wellingtons großen Sieg über die Franzosen wurden Paraden und Feierlichkeiten abgehalten. Er bekam ein paar Stunden frei, um sich das Ereignis zu Ehren des vaterländischen Ruhmes anzuschauen, und nutzte sie, wie immer, um sich einige Trinkgelder zu verdienen. Die Besucher der Paraden brauchten oft jemanden, der auf ihre Pferde und Wagen achtete, und daher stürzte er sich in das Gewimmel.
    Ein hoher Offizier in der Uniform der King’s German Legion war sein erster Kunde, das Pferd ein Prachtexemplar seiner Gattung.
    »Er ist ungeduldig mit den Menschen, Bursche. Glaubst du, du kommst mit ihm zurecht?«, fragte der Colonel mit einem Anflug von Besorgnis in der Stimme.
    »Gewiss, Mylord.« Alexander hatte festgestellt, dass es nie verkehrt war, jemanden mit einem hohen Rang anzureden. »Ich habe zwei Jahre in Colchester die Rösser eines Captains betreut.«
    Verdutzt blieb der Offizier mitten in der Bewegung stehen und musterte Alexander eingehend.
    »Etwa Captain Finleys Tiere?«
    »Ja, Mylord. Kannten Sie ihn?«
    »Flüchtig. Doch ich erinnere mich an einen Stallburschen mit einer weißen Strähne im Haar.«
    Alexander hob wie abwehrend die Hand an die Schläfe. An sie wurde er nicht gerne erinnert. Aber er nickte zustimmend.
    »Wie geht es dem Captain, Junge? Stehst du noch in seinen Diensten?«
    »Nein, Mylord. Er nahm 1817 seinen Abschied.«
    »Und dich reizte die Metropole?«
    »Mylord, ich hatte nicht viele Möglichkeiten – damals.«
    Der Offizier lächelte amüsiert und fragte: »Heute hast du mehr?«
    »Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.«
    Ein weiterer Offizier der Legion trat hinzu und fragte auf Deutsch: »Nikolaus, gut, dass ich dich hier finde. Wir werden von Old Nosey im Carlton House erwartet. Hast du eine Ahnung, wie wir durch das Gedränge dahin gelangen?«
    »Schritt für Schritt und ziemlich langsam, Johannes. Der Duke of Wellington wird sich gedulden müssen.«
    Alexander dachte überhaupt nicht darüber nach, dass er sie verstanden hatte, sondern räusperte sich und schlug vor: »Ich kenne eine Abkürzung durch die Seitenstraßen. Wenn Sie mir vielleicht folgen wollten, Mylords?«
    »Bitte?«
    Beide Männer drehten sich zu ihm um.
    »Verzeihen Sie, ich wollte mich nicht aufdrängen.«
    Der Colonel schüttelte den Kopf. »Nein, das hast du nicht, und wir nehmen dein Angebot dankend an. Nur... du hast uns verstanden?«
    »Ja, natürlich. Oh...!« Alexander dämmerte, was passiert war. Seit sechs Jahren redete, dachte und träumte er in englischer Sprache. Doch irgendwo verborgen in seinem Hinterkopf war auch das Deutsche vorhanden. Er hatte sich nie besondere Gedanken darüber gemacht, wenn er gelegentliche Wortfetzen von deutschen Einwanderern verstand. Es war einfach selbstverständlich. Er hatte aber nie wieder ein Wort gesprochen, und als er jetzt bewusst nach Formulierungen suchte, fiel ihm nichts ein.
    »Junger Mann, führe uns zum Carlton House, anschließend würde ich mich gerne mit dir unterhalten.«
    Alexander gab sich einen Ruck und konzentrierte sich auf das Gegebene. Er brachte die beiden Offiziere einigermaßen unbehelligt ans Ziel und nahm den gebotenen Shilling entgegen. Die Pferde brauchte er vor der Residenz des Königs nicht zu halten, aber Sir Nikolaus Dettering bat ihn, in Bereitschaft zu bleiben.
    Als sich das Portal hinter den beiden rotberockten Rücken schloss, erwog er einen Moment lang, sich aus dem Staub zu machen. Er war

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