Göttertrank
seinen aufgebrachten Neffen nachsichtig an, was Max nur noch weiter reizte.
»Wir werden die Arbeiterklasse zum Sieg über die Kapitalisten führen. Das werden wir.«
»Und einen Arbeiter- und Bauernstaat gründen. Ich sehe schon, es läuft auf die Herrschaft der Schwachköpfe hinaus.«
Alexanders trockene Bemerkung brachte das Fass zum Überlaufen. Max warf mit wütendem Schwung sein Glas an die Wand.
»Das Proletariat wird sich erheben – und dann gnade Gott euch Kapitalisten!«, brüllte er und stob aus dem Raum. Melisande, die die ganze Zeit stumm zugehört hatte, erhob sich und folgte ihm.
»Melli?«
»Lass es gut sein, Amara. Er braucht mich jetzt.«
Dann krachte die Tür hinter ihr zu.
»Nicht alle Menschen werden Brüder«, zitierte Amara leise, und Alexander legte seinen Arm um ihre Schultern.
»Nein, nicht alle. Es tut mir leid, Lothar.«
»Er ist ein Hitzkopf. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ihm der Tod seiner Schwester und der Verrat durch seinen Vater näher gegangen ist, als er zugeben will.«
Sie saßen, betroffen von der Heftigkeit des Ausbruchs, schweigend zusammen, als sie das Klopfen an der Eingangstür hörten. Lachende Stimmen – eine männliche und eine weibliche – erklangen, und die eben zugeschlagene Tür wurde aufgerissen. Jan Martin, mit Inez am Arm, stand strahlend im Raum und schmetterte: »Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein, wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein!«
Dann verstummte er, sah in die Runde und entdeckte die Scherben und den verschütteten Champagner. »O Gott, ist etwas passiert?«
Alexander erhob sich und trat auf die Anrichte zu, um zwei weitere Gläser zu füllen.
»Nur ein heftiger Ausbruch von Maximilians Weltverbesserungsvisionen, die plötzlich ins Beleidigende abrutschten.« Er fasste sich, konzentrierte sich auf seinen Freund und die irritiert dreinblickende Inez. Mit einem Lächeln, noch etwas gezwungen, aber schon halbwegs ehrlich, reichte er ihnen die Kelche. »Mir scheint, wir haben in Gratulationen auszubrechen.«
»Ja, das wäre sehr angebracht. Diese bezaubernde junge Dame hat sich bereit erklärt, mich zu ihrem Mann zu nehmen.«
Sie standen auf und hoben ihre Gläser.
»Auf die Tochter aus Elysium!«, rief Lothar aus. »Möge sie dich ins Paradies entführen, mein Freund!«
»Das wird sie, meine Lieben. In vielerlei Hinsicht. Ich werde meinem holden Weib nach Trinidad folgen.«
Als Alexander Stunden später müde ins Bett sank und nach der Hand seiner Frau tastete, umfing sie seine Finger mit zärtlichem Druck. Er erwiderte ihn und rückte näher. Einladend hob sie ihr Plumeau und zog ihn an sich.
»Es ist so gut, bei dir zu sein, Amara«, flüsterte er. »Bleib bei mir.«
»Natürlich, Alexander. Es hat dich traurig gemacht, nicht wahr?«
»Ja, es macht mich traurig, Freunde zu verlieren.«
Sie seufzte leise und sagte dann: »Das ist der Preis des Fortschritts, Liebster. Er trennt die Menschen räumlich und geistig. Und ich fürchte, die Kluft zwischen Max und Melisande und uns ist tiefer und weiter, als der Atlantik, der uns bald von Jan und Inez trennt.«
»Da wirst du recht behalten. Der Fortschritt wird uns mit den Dampfschiffen wieder näher an Jan bringen, aber Max … Obwohl viel Wahres an dem ist, was er vorbringt. Aber er tut es mit so viel Hass und Verbitterung. Dennoch, wir werden auch über die Arbeitsbedingungen in unserer Fabrik nachdenken. Wir beide wissen, was man besser machen kann.«
»Ja, das werden wir. Und ich hoffe, Melisande und Max werden wenigstens miteinander glücklich.«
»Nie so sehr wie ich mit dir, meine Geliebte!«, murmelte Alexander, bettete ihren Kopf an seine Schulter und legte seine Hand auf ihren leicht gewölbten Leib. Manche gingen, doch andere würden kommen. Bald.
Und der Götterfunke Freude entzündete sich wieder in seinem Herzen, bevor er einschlief.
Die Begleichung einer alten Schuld
Du kehrst zur rechten Stunde,
O Wanderer, hier ein,
Du bist’s, für den die Wunde
Mir dringt ins Herz hinein!
Der Wanderer in der Sägmühle, Kerner
Ich sandte meinem vollgepackten Sekretär einen schiefen Blick und griff dann statt zu den Geschäftsbriefen zu der Mappe aus hellem Leder, in der sich meine Privatkorrespondenz befand. Die Rechnungen und Anfragen konnten warten, im Augenblick wollte ich lieber unseren Freunden schreiben. Ein langer, zart parfümierter Brief von Lady Henrietta harrte der ausführlichen Antwort. Er würde vor
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