Göttertrank
berichten, und darum legte ich sein Schreiben wieder zurück. Nadina hingegen sollte ich bald antworten. Von ihr hatte ich lange Zeit nichts gehört, unser Briefwechsel war irgendwann eingeschlafen. Aber vergangene Woche flatterte ein Billett von ihr herein. Sie machte sich Sorgen um Melisande. Genau wie ich. Das Geschäft in der Sternstraße hatte ich nach meiner Heirat mit Alexander aufgegeben. Das Rezept für die Salben und Pomaden aus Kakaobutter hatte mir der Apotheker für einen guten Preis abgekauft, aber Melli wollte ich das Haus vermieten. Doch sie hatte abgelehnt. Daher betrieb jetzt ein anderer Konditor darin seinen Laden, der ebenfalls dankbar einige meiner Schokoladenrezepte übernommen hatte. Melisande war zu Max gezogen, der eine kleine Wohnung in einer schäbigen Seitenstraße Bonns bewohnte und sich strikt weigerte, Geld oder sonstige Unterstützung von Lothar anzunehmen. Sie lebten von seinem Assistentengehalt und den Einnahmen, die Melli durch die Tingelei in den Cafés verdiente. Daneben engagierten sie sich leidenschaftlich in einem Arbeiterclub. Wir trafen uns nur noch selten, aber um ihrer Mutter willen würde ich nächste Woche noch einmal nach Bonn fahren, um sie zu besuchen. Außerdem musste ich Nadina fragen, wie ich MacPherson erreichen konnte. Denn wenn der Betrieb aufgenommen wurde, brauchten wir große Mengen an Kakao, Vanille und anderen Kolonialwaren. Natürlich lieferte Jantzen den Hauptanteil, aber mir war es lieber, Alternativen zu haben.
Mac war ein seltsamer Mann. Das letzte Mal hatte ich ihn gesehen, als Alexander in Berlin weilte. Er war gekommen, freundlich wie immer, hatte geplaudert, meine Bestellungen entgegengenommen und sich danach verabschiedet. Ich hatte die ganze Zeit über mit mir gehadert und wusste nicht recht, wie ich ihm meine neue Situation erklären sollte, aber er lächelte zum Abschied nur, küsste mir die Hand und wünschte mir »viel Glück, Gräfin«.
Er schien wirklich immer alles zu wissen.
Seither hatte er sich nicht mehr bei mir blicken lassen, war jedoch bei Nadina gewesen und hatte ihr von meiner Hochzeit berichtet, der Schokoladenfabrik und der Geburt unseres Kindes.
»Amara? Amara, störe ich dich?«
Julia unterbrach meine Gedanken. Sechzehn Jahre, schlank, mit einem Gesicht, das versprach, eine edle Strenge zu erwerben, wenn die kindlichen Rundungen abgeschmolzen waren, und einer sich ständig in Auflösung befindenden Frisur, trat sie mit vor Begeisterung strahlenden Augen in den Raum.
»Nein, mein Schatz, du störst nicht. Ich habe soeben überlegt, ob ich mit einem Brief an Lady Henrietta beginnen sollte, aber das kann noch einen Tag warten.«
»Es muss vielleicht sogar noch zwei Tage warten. Papa hat erlaubt, dass ich morgen zur Martinskirmes gehen darf.«
»Und ich natürlich mitkommen soll, meinst du.«
»Ja, Amara. Das würde dir doch auch Spaß machen. Immer vergräbst du dich hier in diesem Nest.«
»Ich vergrabe mich gerne.«
»Tust du nicht.«
»Ich bin eine gesetzte Dame und kein wilder Hopser mehr, Julia.«
»Ach nein? Und wer hat auf dem Maifest die halbe Belegschaft von Juppes außer Atem getanzt? Wer war das wohl?«
Ich war’s, ja, und es hatte Spaß gemacht, einfach mal so richtig ausgelassen fröhlich zu sein. Vielleicht war es doch eine gute Idee. Die Anspannungen der letzten Wochen begannen sich bemerkbar zu machen, und einen Ferientag sollten wir uns leisten.
Er wurde denkwürdig.
Die Martinskirmes auf dem Alter Markt fand zu Ehren des heiligen Martin statt, dem Schutzheiligen der romanischen Kirche des ehemaligen Benediktinerklosters von Groß Sankt Martin. Auf dem Platz wimmelte es von Menschen, die sich um die Buden der Händler drängten, die alle möglichen und unmöglichen Waren feilboten. Ein Klempnermeister stellte Töpfe und Siebe, Pfannen und Eimer aus, bei einem Putzmacher flatterten bunte Haubenbänder und lockten die eitlen jungen Mädchen an, Kurzwarenhändler wachten über einem Meer von farbigen Garnrollen, Schleifen und Knöpfen, Pfefferkuchenbäcker riefen ihr Angebot lautstark aus, von einem Spielwarenstand zogen Kinder beglückt mit Puppen, Trommeln, Tröten und Knarren fort. Ein holländischer Schuhmacher thronte inmitten seiner Holzschuhe, neben ihm probierten junge Gecken glänzende Stiefel bei einem Schuster an, Irdenwaren, blau glasiert aus dem Westerwald, fanden ihre Käufer genau wie die Produkte der Korbmacher, Löffelschnitzer und Besenbinder. Zum unmelodiösen Gejammer einer
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