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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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für sich selbst sorgen und hatte sich bereits ein paar ordentliche Decken und Laken beschafft, einige Hefte und Schreibzeug und eigenes Kochgeschirr. Außerdem hatte er sich bequeme Kleidung zugelegt. Für Westen und Halstücher fand er wahrhaftig keine Verwendung, wohl aber für einfache Arbeitsblusen und Hosen aus Baumwolle und Leinen, in denen er seine morgendlichen Turnübungen absolvierte. Nein, die Umstände waren einigermaßen akzeptabel. Es war die unsägliche Langeweile, die ihm zu schaffen machte. Und in der Langeweile stürmten die Gedanken auf ihn ein. Er hatte angefangen, sie in das Heft zu schreiben, denn einen anderen Gesprächspartner fand er nicht. Bis zu diesem Abend.
     
    »Erzählen Sie, Masters, was sind unsere Kameraden für Leute? Ich bin erst seit gestern hier und habe mir noch keinen Überblick verschafft.«
    Sie saßen mit ihren dicken Gläsern in der Hand am Fenster von Waldeggs Kammer und ließen die Abendsonne in dem roten Wein funkeln.
    »Ich fand bislang nicht viele Gemeinsamkeiten mit ihnen. Der Geck nebenan kennt kein anderes Thema, als sich darüber zu beklagen, dass er hier nicht über die modische Kleidung, den Coiffeur und den Hutmacher verfügen kann, die ihm offenbar die wichtigsten Lebensinhalte vor seiner Verhaftung gewesen waren. Er ist wegen eines missglückten Duells verurteilt worden. Dem Pastor mit seinem grämlichen Blick gehe ich geflissentlich aus dem Weg, Diskussionen über Gottesgnadentum reizen mich aus verschiedenen Gründen zur Gewalttätigkeit. Der wirrköpfige Student mit seinen unausgegorenen politischen Ideen strapazierte meine Geduld ebenso wie der ständig betrunkene Dichterling, der alle Inhaftierten mit seinen gereimten Ungereimtheiten zu beglücken versucht.«
    »Ennuyé comme un rat mort.«
    »Der französischen Sprache bin ich zwar nicht mächtig, aber sinngemäß möchte ich zustimmen.«
    »Tote Ratten findet meine Frau langweilig. Einer ihrer nicht ganz salonfähigen Vergleiche. Er fiel mir hier als passend ein. Was tun Sie, um die toten Ratten zu vertreiben?«
    »Ich turne.«
    »Ich staune.«
    »Der Festungskommandant konnte noch nichts Staatsfeindliches an meinen Freiübungen entdecken, obwohl er anfangs jeden Handstand kritisch beäugen, meine Liegestütze mitzählen und meine Kniebeugen beobachten ließ. Es spornte mich zu Höchstleistungen an. Inzwischen sind sie daran gewöhnt.«
    »In der Leibesertüchtigung lag Ihr Vergehen?«
    »Richtig vermutet. Darin und in der Infizierung meiner vierjährigen Tochter mit freigeistigem Gedankengut.«
    »Dann sind Sie ein gefährlicher Mann, Masters, denn mit Ihrem Wirken verseuchen Sie die nächste Generation. Ich hingegen habe die schandbare Forderung nach Pressefreiheit laut werden lassen. Man erwischte mich, als ich Flugblätter bedenklichen Inhalts druckte. Ich bin übrigens Verleger. In Köln.«
    »Ingenieur, Elberfeld. Zuvor an gastlicheren Orten.«
    »Welche wären?«
    »Berlin, London, Colchester und irgendwann davor Waterloo.«
    »Was nicht für Elberfeld spricht. Zumindest Waterloo habe ich mit eigenen Augen gesehen.«
    Alexander trank seinen Wein und hörte in der Stimme des Älteren die vorsichtige Aufforderung, mehr zu erzählen. Der Alkohol wärmte seinen Magen und machte seinen Geist leicht. Er ließ seine Gedanken zurückwandern und fand sich am Ausgangspunkt seiner jetzigen misslichen Lage wieder. In Berlin, wo er Paula kennengelernt hatte. Doch ihr Bild verschwamm, und dafür tauchte das des jungen Mädchens auf, das er zu Nadina Galinowa gebracht hatte. Manchmal hatte er daran gedacht, Madame Nadina und Amara eine Nachricht zu senden, aber wann immer er die Feder dazu in die Tinte tauchte, fand er nicht den Mut, das erste Wort zu schreiben. Er schämte sich. Seinen Aufenthalt in der Festung hatte er selbst zu verantworten. Diese schmerzliche Einsicht war langsam in den langen, einsamen Stunden in ihm gewachsen. Nicht, dass er wegen der Vergehen, deren er angeklagt worden war, auch nur einen Hauch von Schuld verspürte. Demagogie war ein weiter Begriff, und er hielt die Meinungen, die er vertreten hatte und noch immer vertrat, lediglich für den Ausdruck gesunden Menschenverstandes. Davon würden ihn auch knapp zweieinhalb Jahre Festungshaft nicht abbringen. Aber er gestand sich ein, seine Feinde unterschätzt zu haben. Heuchelei ging leider nicht immer mit Dummheit einher.
    Über die menschliche Natur hatte er bisher nie besonders intensiv nachgedacht. Erst war es wichtig zu überleben,

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