Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
breitesten Stelle achtzig Meter messen. Die Gebäude – einfache Holz- und Steinbauten, wie sie auch in abgelegenen Winkeln Mitteleuropas noch zu finden sein mochten – standen eng beieinander. Die Kutsche hielt auf einem freien Platz am Rande der Ansiedlung, auf der ein paar Einheimische unter Lederplanen Waren zum Verkauf anboten: Gefäße aus Muschelschalen, ockerfarbene Stoffbahnen und allerlei nutzlose Kleinigkeiten, die möglicherweise aus den angespülten Wracks stammten.
    Ein gutes Dutzend Weiße trat aus den vorderen Häusern oder blickte von den Verkaufsständen auf, als Cendrine einem Soldaten zuvorkam und die Tür der Kutsche von innen öffnete. Sie setzte ihren weißen Sonnenhut auf, streckte sich und blickte sich dann aufmerksam um. Sie war so erschöpft, daß man ihr die Erregung wahrscheinlich kaum mehr ansah. Es war immer noch heiß, aber die Luft wurde vom Seewind aufgewirbelt und war nicht mehr so drückend wie im Inneren der Wüste. Ein paar Möwen kreisten über den Dächern, ihr Krächzen klang schrill und klagend. Unweit der Kutsche standen zwei Kamele, machten mit den Kiefern kauende Bewegungen und glotzten die Neuankömmlinge trübsinnig an.
    Cendrines Auftritt erregte unter den Weißen weit mehr Aufsehen, als sie erwartet hatte. Junge Frauen kamen hier gewiß nicht häufig zu Besuch, und offenbar war sie trotz ihrer Müdigkeit, des verschwitzten Kleides und des fettigen Haars noch ansehnlich genug, um neugierige Blicke zu ernten. Weit und breit waren keine anderen weißen Frauen zu sehen. Eigentlich kein Wunder: Die meisten Bewohner dieses Dorfes am Ende der Welt mußten Schatzsucher sein, die sich von den Wracks an der Küste Gewinn versprachen. Entsprechend rauh sahen die meisten dieser Männer aus, und keinem von ihnen schien beim Anblick der Soldaten wohl zu sein.
    Der Hauptmann der Eskorte wandte sich mit zweifelndem Gesichtsausdruck an Cendrine: »Und hier wollen Sie ganz allein Ihren Bruder finden?«
    Sie nickte entschlossen, obwohl sie insgeheim froh war, daß die Soldaten bei ihr waren. »Er muß irgendwo hier sein. Ich werde einfach ein paar dieser Leute fragen. Es gibt bestimmt nur eine einzige Handelsstation hier.«
    Der Hauptmann blieb skeptisch. »Würde mich wundern, falls es hier etwas gibt, das diese Bezeichnung auch nur halbwegs verdient. Und was das Herumfragen angeht, so lassen Sie mich das übernehmen. Ich will nicht, daß man Sie geradewegs … verzeihen Sie, ins nächstbeste Freudenhaus verschleppt.«
    Sie erwiderte seinen Blick mit großen Augen und murmelte dann tonlos: »Na gut. Der Name meines Bruders ist –«
    »Elias Muck. Ich weiß.«
    Sie sah dem Hauptmann nach, wie er zu den Verkaufsständen hinüberging. Die meisten Weißen hatten es mit einemmal überaus eilig, zwischen den Hütten zu verschwinden. Der Soldat hielt einen an der Schulter zurück, einen alten Mann mit Augenklappe, der aussah, als sei er der Illustration einer Piratengeschichte entstiegen. Der Soldat redete scharf auf den Alten ein, und schließlich gestikulierte der Mann wild in eine bestimmte Richtung. Der Hauptmann ließ ihn los, gab ihm einen unnötigen Stoß in den Rücken und kehrte dann zurück zu Cendrine.
    »Ein schönes Plätzchen hat sich Ihr Bruder hier ausgesucht«, bemerkte er mürrisch. »So viele nette Leute.«
    »Wußte er etwas über Elias?«
    »Der Kerl sagt, Ihren Bruder kenne hier jeder. Sein Haus liegt auf der anderen Seite des Dorfes, am Rand der Klippe.« Mit bitterem Lächeln fügte er hinzu: »Sicher ist er nur wegen der Aussicht hierhergekommen.«
    Cendrine seufzte und wollte sich auf den Weg machen, doch abermals hielt der Soldat sie zurück. »Ich gehe mit Ihnen.« Er drehte sich um und gab zweien seiner Männer einen Wink. »Ihr beiden, ihr kommt mit. Und schaut nach, ob eure Waffen geladen sind.«
    Die Soldaten schlossen zu Cendrine und dem Hauptmann auf. Cendrine warf einen Blick hinüber zu den drei San, die sie während des ganzen Weges begleitet hatten. Die Eingeborenen waren gerade dabei, das Gepäck von der Kutsche zu laden. Cendrine überlegte, ob sie sie noch zurückhalten sollte, um erst einmal Elias’ Reaktion abzuwarten, entschied sich dann aber dagegen. Sie war nicht zwei Wochen durch Steppen und Wüsten gereist, um jetzt klein beizugeben.
    Es war beinahe komisch: Sobald die Soldaten eine der Hütten passierten, wurden Türen und Vorhänge zugezogen. Hinter manchen Ecken war aufgeregtes Tuscheln zu hören, das sofort verstummte, wenn sich einer von

Weitere Kostenlose Bücher