Göttin der Wüste
Deshalb hast du ihn in die Irre geführt, wieder in die Auasberge zum Haus der Kaskadens. All das Gerede von den Steinen … das waren nur Lügen. Die Steine haben niemals Macht besessen, auch wenn Selkirk das vielleicht geglaubt hat.«
»Nur solange sie Teil dieses Tempels waren. Kain mußte das erkennen, als er zum erstenmal zu ihnen ging. Es war sinnlos. Sie waren nur noch leerer, gewöhnlicher Stein. Es gab keine Verwendung mehr für sie. Der Tempel kann den Fluch nicht mehr aussperren.«
Cendrine zeigte auf die Gestalt zwischen den Riesenwurzeln.
»Und sie?«
»Der Fluch der Wanderung liegt nicht auf ihr. Sie wurde verdammt, die Weiße Göttin zu sein. Für immer hier zu bleiben, in diesem Tempel, als Hüterin des Lebensbaumes.«
»Aber ihr werdet sie verstoßen, wenn ich an ihre Stelle trete …«
»Sie hat nicht mehr genug Macht, um eine Göttin zu sein.«
»Was wird mit ihr geschehen?«
»Wer weiß?« Qabbo zuckte die Achseln, eine Geste, die sie immer für sehr unafrikanisch gehalten hatte. »Auf alle Fälle etwas, das Kain verhindern wollte. Deshalb wollte er dir zeigen, was dich hier im Tempel erwartet. Er wollte dich verjagen – oder töten. Deshalb ist er jetzt bei den Kaskadens.«
Sie gab sich Mühe, sehr gefaßt, sehr ruhig zu bleiben. »Dann werden sie alle sterben?«
»Das ist die Natur des Sturms. Die Schlange verwirrt den Geist der Menschen. Sie wirbelt ihre Ängste ans Licht, ihren Zorn. Es wird nur einen Weg geben, diese Gefühle zu vertreiben.«
»Sie töten sich gegenseitig. Wie Selkirk und seine Familie.«
Qabbo mußte darauf keine Antwort geben. Statt dessen sagte er: »Verurteile mich nicht, Cendrine. Ich habe viel verloren, um dich hierherzubringen. Ein Großteil meiner Kraft ist geschwunden.«
Sie blickt noch einmal zu der Erscheinung am Fuß des Baumes, dann drehte sie sich mit einem Ruck zu Qabbo um.
»Wieviel Kraft ist dir geblieben, weiser San?« Ihre Augen fixierten ihn und entdeckten plötzlich Unruhe in seinem Blick. »Genug, um es mit mir aufzunehmen?«
***
Adrian hatte den ersten Speicherraum durchquert, lief jetzt über den Dachboden des Südflügels, als er am anderen Ende die Geheimtür entdeckte. Es war sehr dunkel hier oben, das mächtige Gebälk über seinem Kopf ließ sich nur erahnen. Der offene Durchgang schälte sich aus der Finsternis, und dahinter sah Adrian, eingefaßt vom Rahmen der Tür, wie seine Schwestern miteinander rangen. Er konnte sehen, daß Salome kreischend den Mund aufriß, dann stürzte sie sich erneut auf ihre Schwester, und beide verschwanden aus Adrians Blickfeld.
Mit einem Keuchen stolperte er in die geheime Kammer. Salome und Lucrecia rollten eng verschlungen über den Boden, strampelnd, brüllend, immer wieder aufeinander einschlagend. Einen Augenblick lang war Adrian vor Staunen wie gelähmt: Überall im Raum lagen hohe Stapel rötlicher Steine, mit Reliefen bedeckt, die nicht einmal der Staub völlig verbergen konnte.
Er sprang vor und versuchte, die Mädchen zu trennen. Im ersten Moment beachteten sie ihn gar nicht, dann aber blickten beide gleichzeitig zu ihm auf. Bislang hatte er gedacht, er würde seine kleinen Schwestern in- und auswendig kennen, jede Regung, zu der sie fähig waren, jedes Gefühl. Mit dem Haß aber, der ihm jetzt aus ihren Augen entgegensprang, hatte er nicht gerechnet.
Salomes sanftes Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Sie ähnelte ein wenig ihrer Mutter bei einem ihrer Tobsuchtsanfälle, nur daß sie nicht mit Schlägen oder Stubenarrest drohte – in ihrem Blick lag der pure Wille zu töten. Lucrecia, sonst die streitsüchtigere von beiden, die manchmal auch nicht davor zurückgeschreckt war, sich mit Adrian anzulegen, trug jetzt Hohn und Verachtung zur Schau wie eine Teufelsmaske, die mit ihren Zügen verschmolzen war. Sie fletschte die Zähne, Speichelfäden platzen zwischen ihren Lippen. Ein dünnes Blutrinnsal lief über ihre Stirn, wo Salome ihr ein Haarbüschel ausgerissen hatte.
Adrians Versuch, die Mädchen voneinander zu lösen, hatte Erfolg. Statt dessen stürzten sie sich in stummer Übereinkunft auf ihren Bruder. Bevor Adrian sich zur Wehr setzen konnte, spürte er schon, wie Lucrecias Fingernägel tiefe Furchen in seine Wange gruben.
Salome trat nach ihm, erst vors Schienbein, dann in die Lenden. Er wich dem zweiten Tritt gerade noch aus und versuchte gleichzeitig, Lucrecia auf Distanz zu halten. Vergeblich brüllte er auf die Mädchen ein. Wie hungrige Raubkatzen klammerten sie
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