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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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einfiel.
    »Was ist mit dem Kind?« fragte sie. »Ist es hier in Sicherheit?«
    »Es ist ein Hyänenmensch«, antwortete Qabbo, als bedürfe es keiner weiteren Erklärung.
    Ein Schauer durchlief sie von Kopf bis Fuß. »Dann werdet ihr ihn töten?«
    »Nicht, solange keiner die Wahrheit erfährt. Ich werde zu niemandem darüber sprechen.« Er hob die Schultern, eine Geste der Hilflosigkeit. »Aber du kennst die Hyänenmenschen nicht. Das Schicksal des Jungen ist vorherbestimmt. Er wird sich verwandeln, und er wird Hunger haben. Es geschähe nicht zum erstenmal.«
    »Du glaubst wirklich, daß es Menschen gibt, die sich in Tiere verwandeln?« Mit einemmal wurde ihr wieder der scharfe Geruch nach Ammoniak bewußt, der von der Seife ausging. Er brannte in ihrer Nase und in ihrem Hals.
    »Ein Hyänenmensch zeigt sein wahres Gesicht niemals in Gegenwart seines Opfers«, sagte Qabbo. »Hätte er sich dir in seiner tierischen Gestalt gezeigt, dürfte er dich später nicht mehr fressen. Deshalb offenbart er sein wahres Äußeres erst in dem Augenblick, in dem er dir die Kehle zerfetzt. Das ist das Gesetz der Götter, dem auch die Hyänenmenschen folgen. Wenn sie nicht hungrig sind, sind sie freundlich und hübsch anzuschauen. Doch wenn sie dir erst ihr Hyänengesicht zeigen, ist es vorbei mit dir. Wundert es dich also, daß er dir wie ein harmloses Kind erschien und nicht wie eine Bestie?«
    »Er ist ein harmloses Kind!«
    »Das wird die Zukunft zeigen. Es kommt selten vor, daß es gelingt, einen Hyänenmenschen zu fangen. Fast alle Geschichten, die mir über sie zu Ohren gekommen sind, gehen böse für die Jäger aus. Stets werden sie angefallen und aufgefressen.«
    »Ich möchte jetzt wirklich nach Hause gehen.«
    Er nickte gleichmütig. »Wie du willst. Ich bin froh, daß wir miteinander gesprochen haben. Denke nach über das, was ich dir gesagt habe. Stell dir Fragen. Prüfe dich.«
    »Ja … ja, gewiß«, gab sie stockend zurück und erhob sich. »Leb wohl, Qabbo.«
    »Auf Wiedersehen«, sagte er und blickte ihr nach. »Auf Wiedersehen, Cendrine Muck.«
    Die Blicke der Frauen folgten ihr, bis sie das Viertel der San verlassen hatte, erst dann wandten sie sich wieder ihren Arbeiten zu. Es hatte zu regnen begonnen, ein leichtes Nieseln, das begierig vom ausgedorrten Savannenboden aufgesogen wurde. Als Cendrine sich noch einmal umschaute, sah sie, wie die San die Gesichter zum Himmel wandten und mit den Lippen stumme Silben formten.
    ***
    »Entschuldigung«, sagte eine Stimme hinter ihrem Rücken. »Entschuldigen Sie bitte.«
    Cendrine hatte gerade die Straße vor dem Bahnhof überqueren wollen, als ihr klar wurde, daß sie gemeint war. Irritiert fuhr sie herum.
    Auf der hölzernen Veranda vor den vier kleinen Geschäften stand ein alter Mann, ein Weißer. Er war sicher weit über sechzig, und Cendrine fiel auf, daß er sich mit einer Hand an einem der Stützträger des Vordaches festhielt. Seine Hose und Weste waren schwarz, darunter trug er ein helles Hemd. Er hatte weißes, silbrig schimmerndes Haar. Ein Bleistift steckte hinter seinem linken Ohr.
    »Verzeihen Sie, meine Dame«, sagte er. Der Regen war in den letzten Minuten heftiger geworden und legte einen feuchten Film über die faltigen Züge des Alten. »Halten Sie mich bitte nicht für aufdringlich. Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit für mich?«
    Impulsiv wollte sie verneinen, doch seine ausgesuchte Höflichkeit hielt sie davon ab. »Es regnet«, sagte sie. »Ich würde gerne möglichst schnell nach Hause.«
    »Kommen Sie unters Dach«, schlug er vor. »Ich verspreche Ihnen, daß ich Sie nicht lange aufhalten werde.«
    Nach dem Gespräch mit Qabbo und allem, was im Dorf der San geschehen war, war sie nicht in der Stimmung für einen freundlichen Plausch. Innerlich war sie vollkommen aufgewühlt, und sie begann zu spüren, daß die Ereignisse bald ihren Tribut fordern würden. Schon jetzt war ihr schwindelig vor Erschöpfung.
    »Ein andermal«, sagte sie und wollte weitergehen.
    »Hier«, rief ihr der Mann hinterher. »Der ist für Sie.«
    Als sie sich abermals umdrehte, hatte der Alte hinter seinem Rücken einen schwarzen Regenmantel hervorgezogen. Er baumelte über seinem Arm wie eine tote Krähe mit hängenden Flügeln.
    »Für mich?« fragte sie mißtrauisch.
    »Wie Sie schon sagten, es regnet. Sie werden sich erkälten.«
    Zögernd ging sie auf den Mann zu. Er wich zwei Schritte zurück, damit sie unter das Vordach der Ladenzeile treten konnte.
    »Ich

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