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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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habe gesehen, daß Sie einige Male einen Blick in mein Geschäft geworfen haben«, fuhr er fort und deutete mit einer Kopfbewegung auf das dunkle Schaufenster mit der Wachsfigur. Dankbar bemerkte Cendrine, daß das zerlaufene Gesicht der Puppe in eine andere Richtung blickte.
    »So?« fragte sie.
    »Ja, und ich dachte, bei dem Wetter möchten Sie vielleicht hereinkommen und sich umschauen.« Er lächelte, ein liebenswürdiger älterer Herr. »Es ist nicht groß, aber dafür trocken. Und hier draußen verpassen Sie bestimmt nichts.« Plötzlich fiel ihm wieder der Mantel ein. »Ach ja, den möchte ich Ihnen schenken.«
    Für die lange Fahrt auf dem offenen Pferdewagen hätte sie den Mantel in der Tat gut gebrauchen können. Dennoch schüttelte sie den Kopf. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber es ist nicht meine Art, Geschenke von Fremden anzunehmen.«
    »O Gott«, entfuhr es ihm, »ich habe Sie in Verlegenheit gebracht. Liebe Güte, das lag gewiß nicht in meiner Absicht. Natürlich können Sie mir den Mantel irgendwann zurückbringen. Ich bin sicher, Sie werden ihn nicht beschädigen. Betrachten Sie ihn einfach als Leihgabe.«
    »Ich fürchte, das macht keinen großen Unterschied«, sagte sie entschlossen.
    »Nicht?« Traurig blickte er von ihr auf den Mantel und ließ dann den Arm sinken. »Nun, ich habe es nur gut gemeint und –« Er brachte den Satz nicht zu Ende und sagte statt dessen: »Sehen Sie, ich war Pfarrer, bevor … nun, bevor ich diesen Laden eröffnet habe.«
    Erstaunt suchte sie seinen Blick, aber er schaute noch immer niedergeschlagen zu Boden. »Sie sind ein Geistlicher?«
    »War ein Geistlicher, muß es heißen, fürchte ich.« Er nickte und sah sie plötzlich wieder an. »Ja, das war ich wohl. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle? Jakob Haupt, mein Name, ehemals einziger Pfarrer von Windhuk. Der letzte Missionar, wenn Sie so wollen. Überlebender einer ausgestorbenen Spezies, mehr oder weniger.«
    Wenn das ein Trick war, um sie doch noch in seinen Laden zu locken, dann wirkte er zumindest sehr überzeugend. Der alte Mann klang so verdattert, wie Cendrine es nur Geistlichen und Gelehrten zutraute. An der Gouvernanten-Schule hatten einige dieser Prachtexemplare unterrichtet.
    »Ich habe mein Amt schon vor Jahren niedergelegt«, fuhr er fort. »Mein Nachfolger ist jünger und den … besonderen Anforderungen dieser Gegend wohl eher gewachsen als ich.«
    Sie hätte ihn gerne gefragt, was für Anforderungen er meinte, hielt sich aber im letzten Moment zurück. Statt dessen deutete sie auf die Wachsfigur im Schaufenster. »Ihre Spezialität scheint mir Damenunterwäsche zu sein.«
    Er lächelte. »Oh, bitte, Fräulein, kein erhobener Zeigefinger. Ich war Pfarrer, bin aber keiner mehr.«
    Sie räusperte sich beschämt. »Es lag keineswegs in meiner Absicht, Sie zu –«
    »Lassen Sie nur«, unterbrach er sie. »Es ist immer dasselbe. Die Leute wundern sich. Ist ja auch ihr gutes Recht. Ein Priester, der Damen einkleidet … Ich fürchte, ein wenig Verwunderung muß ich den Menschen zugestehen.«
    Mit einemmal tat er ihr leid. Er hatte nur freundlich sein wollen, und sie hatte ihn gleich zweimal brüskiert.
    Sie schenkte ihm ihr herzlichstes Lächeln. »Ich komme gerne an einem anderen Tag in Ihr Geschäft. Und was den Mantel angeht, wenn Ihr Angebot noch steht, dann würde ich es gerne annehmen.«
    Seine Miene hellte sich auf. »Sehen Sie, Regen ist nichts für junge Damen. Hier!« Er hielt ihr den Mantel hin, und sie nahm ihn an sich. Es war ein bodenlanges Cape mit weiter Kapuze, aus wasserbeständigem Stoff gewebt. Mit Schwung warf sie es sich um die Schultern und hakte den Verschluß zu.
    »Was bin ich Ihnen schuldig?« fragte sie, nachdem sie die Kapuze hochgeschlagen hatte. »Ich habe keinen Pfennig bei mir, aber ich werde das Geld einem der Bediensteten mitgeben, wenn er das nächste Mal in die Stadt reitet.«
    Haupt schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch, es ist ein Geschenk. Oder eine Leihgabe, ganz wie Sie wünschen. Aber Geld möchte ich keines dafür.«
    Sie lächelte kokett. »Sie wissen, daß eine Dame solche Geschenke nicht annehmen darf.«
    »Sie darf, wenn die Gabe von Herzen kommt.«
    »Sie kennen mich doch gar nicht«, erwiderte sie lachend.
    Darauf entgegnete er nichts, deutete nur eine Verbeugung an und verabschiedete sich. Sie blickte ihm nachdenklich hinterher, als er in seinem dunklen Laden verschwand und die Tür hinter sich schloß.
    Cendrine drehte sich um und lief so

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